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Teufelsleib

Titel: Teufelsleib Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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traurig?«
    »Mein ganzes Leben«, antwortete er nach einigem Überlegen, wandte den Kopf und sah sie wie aus weiter Ferne an. »Es ist ein einziger Trümmerhaufen, der sich auch nicht wieder zusammensetzen lässt. Es fing mit meiner überaus tollen Kindheit an …«, sagte er, stockte im Satz und blickte ins Leere.
    »Was ist passiert?«, fragte sie, als er nicht weitersprach.
    »Lange Geschichte. Meine werte Frau Mama hing an der Flasche, ich kann mich nur erinnern, dass sie die meiste Zeit über besoffen im Bett gelegen hat, bis sie mich ihr weggenommen haben, als ich sieben war. Mein Vater hat die Fliege gemacht, als ich noch ganz klein war, deshalb steckten sie mich in ein Waisenhaus, wo ich die schlimmste Zeit meines Lebens verbracht habe und so weiter und so fort. Noch mehr?«
    »Nur wenn du willst.«
    »Erzähl mir was von dir. Wie bist du aufgewachsen?«
    »Relativ normal. Erst mit zwölf wurde es etwas kritisch, aber ich behaupte, bis dahin eine recht gute Kindheit gehabt zu haben.«
    »Siehst du, da liegt der Unterschied zwischen uns beiden.« Er blieb stehen, trank sein Glas leer und stellte es auf den Tisch. Er ballte die Faust und presste durch die Lippen: »Die verdammten Schwarzkutten! Diese gottverdammten Schwarzkutten! Nach außen alles heilig und gut, aber wie’s hinter den verschlossenen Türen aussah, das hat niemand mitgekriegt, außer denen, die hinter den Türen und Mauern lebten. So wie ich.« Er wischte sich über das Gesicht, seine Stimme klang belegt.
    »Was ist passiert?«, fragte Yvonne einfühlsam.
    »Was ist passiert? Scheiße, Mann, wie viele Tage hast du Zeit? Das lässt sich nicht so einfach en passant erklären. Aber gut, wenigstens ein paar Stichworte: Wenn wir nicht den Teller leer gegessen haben, wurden wir bestraft. Wenn wir ein falsches Wort zur falschen Zeit gesagt haben, wurden wir bestraft. Das eigentlich Schlimme war, dass es sich um ein von Nonnen geführtes Waisenhaus handelte … Mehr möchte ich dazu nicht sagen.«
    »Warum nicht? Wir sind doch hier unter uns.«
    »Weil in mir dann wieder dieser unsägliche Hass hochkommt. Es ist jedes Mal dasselbe, ich brauche nur daran zu denken, und schon ist da wieder dieser verfluchte Hass. Nur Hass, Hass, Hass!«
    »Haben sie Dinge mit dir gemacht, die …«
    »Sie haben die schlimmsten Dinge gemacht, die man sich nur vorstellen kann. Denk dir irgendwas aus, es wird schon stimmen. Das mit dem Kerker und dem Schlafentzug gehörte noch zum Harmlosen, und wenn wir mal zwei oder drei Tage hungern mussten, auch vergessen. Aber …«
    »Du wurdest missbraucht?«, sagte sie, als er nicht weitersprach, und es klang wie eine Feststellung. Sie beobachtete ihn, registrierte seine Anspannung, wie es in ihm arbeitete und rumorte, wie sein Gesichtsausdruck sich ein ums andere Mal veränderte, wie seine Kiefer aufeinander mahlten und sein Blick für Momente düster und dumpf wurde, bis er sie ansah und das Düstere aus seinem Gesicht verschwand.
    »Misshandelt, missbraucht, verkauft für eine Tafel Schokolade oder eine Extraportion zum Mittagessen. Es war die verfluchteste Zeit meines Lebens, und ich bin froh, dass ich dieser Hölle lebend entkommen bin, auch wenn ich mich manchmal frage, ob es nicht besser gewesen wäre, ich wäre gestorben.« Er atmete einmal tief durch und fuhr fort: »So, jetzt weißt du’s. Nach diesen elf Jahren bist du nie mehr in der Lage, ein einigermaßen normales Leben zu führen, glaub mir. Ich habe beruflich so ziemlich alles erreicht, was ein Mann in meinem Alter erreichen kann, aber die Vergangenheit lässt sich nicht wegwischen, ganz gleich, wie viel Geld ich habe. Wenn mir einer sagt, dass es einen Gott gibt, dann frage ich mich, wo er war, als ich in diesem Heim lebte. Andererseits, sage ich mir, muss es einen Gott geben, denn ich habe schließlich auch die Hölle und den Teufel kennengelernt. Ich weiß es nicht, ich weiß überhaupt nichts. Ich weiß, dass ich nichts weiß, dieser Ausspruch von Sokrates trifft wohl auf kaum jemanden besser zu als auf mich. Doch ich will dir nicht die Ohren volljammern, es gibt unzählige Menschen, denen geht es schlechter als mir«, winkte er ab, lächelte still und tat, als sei nichts gewesen.
    »Man darf sein Schicksal nicht mit dem von anderen vergleichen«, entgegnete Yvonne mit sanfter Stimme. »Ich bin froh, nicht so eine Kindheit und Jugend gehabt zu haben. Ist das der Grund, warum du keine feste Beziehung hast?«
    »Vielleicht«, sagte er schulterzuckend.

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