Teufelsmauer
Wagen.
»Lasst mich durch!«, schrie die Mutter, eine etwa siebenundvierzigjährige schmale Frau. Die Deckenbarriere der Feuerwehr teilte sich und bot einen schmalen Durchlass, durch den erst die Frau, dann der Mann und zuletzt, mit kleinem Abstand, die Schwester schlüpften.
»Barbara, Barbara!«, hörte Morgenstern. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten.
Langsam gingen er und Hecht auf die kleine Gruppe zu, die sich innerhalb der Absperrung aus Tüchern vor der AuÃenwelt verschanzt hatte. Das Bild, das sich ihnen bot, würde Morgenstern so schnell nicht vergessen. Die Mutter saà im Gras und hatte den Kopf der toten Tochter in ihren Schoà gebettet. Tränen rannen ihr über das Gesicht, aber sie machte keine Anstalten, sie abzuwischen. Wie in Trance strich sie dem Mädchen wieder und wieder über das Gesicht und zupfte ihr Algen aus den Haaren.
Morgenstern, der weder Kirchgänger noch mit einem Faible für Kunstgeschichte gesegnet war, wusste dennoch sofort, dass dieses Bild, das er vor Augen hatte, eine Ikone war: eine gramgebeugte Mutter, blass vor Schmerz, mit ihrem toten Kind in den Armen. Die Pieta, wie sie Michelangelo im Petersdom in Rom dargestellt hatte. Er fühlte einen Kloà im Hals aufsteigen, erst recht, als der Vater, der bis eben noch gestanden war, sich ebenfalls auf den Boden setzte und seinen Arm um die Schultern seiner Frau legte, und dabei starr ins Leere blickte. Die jüngere Schwester, ein Mädchen mitten in der Pubertät, stand mit Tränen in den Augen daneben und kauerte sich schlieÃlich hilflos an den FüÃen der Toten nieder, bewusst oder unbewusst Abstand zu den Eltern haltend. So verharrten sie bestimmt fünf Minuten. Morgenstern kam es wie eine Ewigkeit vor.
SchlieÃlich erhob sich die Familie, die nunmehr für immer eine »Restfamilie« war, und verlieà ratlos um sich blickend das Trauerrefugium. Der Streifenbeamte, der die Tote wieder zugedeckt hatte, ging beherzt auf die Eltern zu. Er drückte erst ihnen, dann der Schwester die Hand und murmelte sein Beileid. Dann stellte er Morgenstern und Hecht vor. Die Eltern nickten.
»Wir müssen Ihnen, sobald das für Sie möglich ist, einige Fragen stellen«, sagte Morgenstern, »auch wenn wir wissen, dass das schwer für Sie ist.«
»Fragen Sie jetzt«, sagte die Mutter und richtete sich stocksteif auf, als wollte sie ihre Disziplin bereits durch die Körperhaltung unter Beweis stellen.
»Tun Sie, was Sie tun müssen«, sagte daraufhin auch der Vater.
»Nein, nicht hier und nicht jetzt. Wir kommen zu Ihnen nach Hause.« Morgenstern kramte nach seiner Visitenkarte. »Rufen Sie mich an, sobald Sie sich dazu in der Lage fühlen.«
Die Mutter schluchzte laut auf und schüttelte den Kopf, sodass ihr die langen braunen Haare ins Gesicht fielen.
»Kommen Sie in einer Stunde zu uns nach Hause«, entschied der Vater, nachdem er einen Blick auf die umstehenden Feuerwehrleute geworfen hatte. »Wir bleiben, bis man Barbara weggebracht hat. Danach reden wir.«
»In Ordnung.« Morgenstern nickte.
»Kirchgasse 1 in Hirnstetten«, sagte der Vater. »Der groÃe Hof gegenüber der Kirche. Grüne Fensterläden, in der Mitte ein Taubenhaus.«
Hirnstetten lag etwa drei Kilometer nordwestlich von Pfahldorf auf der Jurahochfläche, die ein Stück hinter dem Zweihundert-Einwohner-Dorf steil abfiel ins schmale Anlautertal. Wie viele Ortschaften des Jura war Hirnstetten mit seinen Wiesen und Ãckern fast kreisrund in ein mächtiges Waldgebiet eingebettet, ein genau geplantes Rodungsdorf, dessen Fläche im Mittelalter mit Axt und Feuer dem undurchdringlichen Forst entrissen worden war.
Kurz vor dem Dorf entdeckte Morgenstern in einer Wiese den ausrangierten Miststreuer eines Bauern. Er trug eine roh gezimmerte hölzerne Informationstafel. Meistens machten solche Fahrzeuge entlang von LandstraÃen Werbung für improvisierte Disco-Veranstaltungen, die von der Katholischen Landjugend veranstaltet wurden und gut und gerne zweitausend junge Leute zum ekstatischen Feiern in ein Festzelt lockten. Doch dieser Wagen hatte eine andere Botschaft.
»Stoppt den Augustus-Park! Rettet uns vor der Blechlawine!«, las Hecht laut vor. »Aha. Bleib doch mal bitte stehen. Das will ich mir genauer ansehen.«
Morgenstern parkte auf dem nächsten Feldweg. Gemeinsam gingen sie zu dem Miststreuer,
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