Teufelswasser
Berühmtheiten die Rede war. Philipp Laubmann sollte ruhig merken, dass er nicht der Einzige war, der Bescheid wusste.
Sie zählte auf, was in der Gästeliste einst Rang und Namen hatte: Reichskanzler Otto von Bismarck, der in Kissingen knapp einem Attentat entgangen sei, die deutsche Kaiserin Auguste Viktoria, Kaiser Franz Joseph von Österreich nebst seiner Gemahlin Elisabeth sowie Zar Alexander II. von Russland mit seiner Gemahlin Maria Alexandrowna, die Könige Ludwig I., der II. und der III. von Bayern, Prinzregent Luitpold von Bayern, die Dichter Theodor Fontane, Leo Tolstoi, Victor von Scheffel und George Bernard Shaw, der Maler Adolph von Menzel oder der Komponist Gioacchino Rossini.
«Hört sich an wie ein Who's who des 19. Jahrhunderts.»
Philipp erzählte seinerseits von einem tragisch geendeten Kuraufenthalt in der Geschichte Bad Bocklets. Im Jahre 1800 nämlich hatte Caroline von Schlegel-Schelling, die Dichterin aus dem Kreis der Jenaer Romantik, mit ihrer Tochter Auguste den Badeort aufgesucht. Doch Auguste war plötzlich schwer erkrankt und bereits wenige Tage darauf gestorben.
Nach diesen wechselseitigen historischen Belehrungen jedoch hatten beide das Bedürfnis, endlich versonnen zu schweigen und dem Spiel des Kurorchesters zu lauschen, das Swingmelodien im Repertoire hatte. Laubmann, dem für einen winzigen Moment nichts Lokalgeschichtliches mehr einfiel, tupfte verlegen mit dem Zeigefinger auf die Wasseroberfläche im Brunnenbecken. Gabriela Schauberg hingegen grübelte darüber nach, ob sie Bad Kissingen gleich verlassen und wieder nach Bamberg gehen solle.
Sie könne sich, sagte sie schließlich, nach dem Vorgefallenen nicht mehr entspannen und auf die Kur konzentrieren. Das Säkularinstitut und die Gemeinschaft in Bamberg würden ihr Sorgen bereiten; denn die internen Konflikte könnten nun der beiden Morde wegen umso stärker aufbrechen. Außerdem könnten untereinander Verdächtigungen entstehen, weil einige der alten Mitglieder nicht gutgeheißen hätten, dass Margarete Müller einen unehelichen Sohn hatte.
«Am liebsten würde ich die Kur abbrechen und zurückkehren», meinte Gabriela Schauberg und wischte gleichsam abwehrend etwas Wasser vom Rand des Brunnens. «Wenn mir nur klar wäre, was Gott mit all dem bezweckt. Wenn ich irgendein Zeichen bekäme!»
«Ich wünschte mir auch so manches Mal, Gottes Stimme wäre verständlicher zu vernehmen», äußerte Philipp Laubmann mehr gläubig-zweifelnd als theologisch. «Martin Buber etwa beschreibt eine Gotteserscheinung, die der Prophet Elija hatte, als eine Stimme verschwebenden Schweigens .»
«Er hat bestimmt recht – allein im Schweigen ist Gottes Nähe verborgen.»
«Jedenfalls sollten wir vor Gott niemals kapitulieren, wie es der jüdische Mystiker Abraham Joshua Heschel formuliert», ergänzte Laubmann, jetzt wieder ganz Theologe.
Er schlug vor, für die nächsten zwei Wochen zwar in Kissingen zu bleiben, aber nicht ausschließlich. Denn die Morde an dem Zwillingspaar könnten, kriminalistisch betrachtet, durchaus zusammengehören. Folglich könnten Bad Kissingen und Bamberg für die Aufklärung des Falles gleichermaßen relevant sein. «Wir sollten uns also an beiden Orten umsehen. Wenn wir unsere Kuraufenthalte schon privat finanzieren, können wir uns auch jederzeit Auszeiten nehmen.» Detektivische Recherchen, das wisse er aus Erfahrung, seien für den Kreislauf mindestens so anregend wie Moorbäder. Andererseits täte ihm ein wenig Abstand ebenfalls ganz gut.
Sie beschlossen daher, gleich am Nachmittag zum Säkularinstitut nach Bamberg zu fahren und sich dort bis Montagvormittag aufzuhalten, sofern er, Laubmann, als Besucher im Institut willkommen sei.
«Wir sind auf Gäste eingestellt», versicherte ihm Gabriela Schauberg. «Bei einem Theologen mit Ihren Qualitäten habe ich da sowieso keine Bedenken.»
Dr. Philipp Laubmann war hocherfreut. «Dann haben wir den ganzen Sonntag Zeit. Sie hätten Gelegenheit, den möglichen Konflikten innerhalb des Instituts nachzuspüren, und ich könnte den Tatort im Park begutachten.» Er bot sogar an, Gabriela zu fahren.
«Dann aber mit meinem Wagen!», verfügte sie.
«Wieso», fragte Laubmann erstaunt, «kennen Sie meinen weißen Opel schon?»
***
Nachdem sie zur Mittagszeit mit der erneut in Bad Bocklet eingetroffenen Postkutsche, die nun bei jeder Fahrt vollbesetzt war, von ihrem Ausflug wieder nach Bad Kissingen zurückgekehrt waren, begleitete Philipp Laubmann Gabriela
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