Teufelswasser
Ausflugsfahrten.
Sie passierten eine besonders reizvolle Flusspartie, gerade als die Kutsche in einer Kurve notgedrungen langsamer fuhr. Dichtstehende Bäume ließen, weil sie noch kaum belaubt waren, einzelne Durchblicke auf die Wasseroberfläche frei, über der stellenweise Nebelfetzen hingen. Aber mehr und mehr kam die Sonne zum Vorschein. Laubmann dachte sich, wie kitschig die Realität doch manchmal sei – und genoss trotzdem den Anblick. Denn besser kitschig als so entsetzlich wie gestern.
Gabriela Schauberg hatte wie Philipp Laubmann die erste von drei Kurwochen in Bad Kissingen nahezu hinter sich; und wie er finanzierte sie ihre Kur privat. Um unabhängiger zu sein und, falls es nötig war, kurzfristig nach Bamberg entwischen zu können. Sie erzählte ihm von ihren Herzproblemen, die der Grund für ihren Kuraufenthalt waren.
«Mit meinem Herzen habe ich, außer wenn ich mich wahrhaft verlieben sollte, keine Beschwerden», erläuterte der Moraltheologe betont sachlich; «schon eher mit dem Kreislauf, weil ich mich zu wenig bewege.» Deshalb habe er gestern auch zum ersten Mal in seinem Leben ein Moorbad genommen – und dann gleich in unmittelbarer Nähe zu einem Mordfall. «Eine bemerkenswerte Koinzidenz.»
«Ich hatte schon am Dienstag einen Moorbadtermin», erwähnte Gabriela beiläufig, «an meinem ersten vollen Tag hier … einen Tag vor Margaretes Tod.» Sie sah bedrückt aus dem Kutschenfenster hinaus auf die Landschaft. «Ich hätte doch an dem Abend mit ihr sprechen sollen.»
Philipp Laubmann verstand nicht, worauf Gabriela Schauberg in ihrem letzten Satz anspielte.
Deshalb berichtete sie ihm, dass Margarete Müller eine Kandidatin für die Wahl zur Leiterin des Säkularinstituts gewesen und als solche für starke Veränderungen eingetreten sei und dass Margarete sie im Institut angesprochen habe, um über etwas sie Bedrängendes mit ihr zu reden. «Am vergangenen Mittwoch war das, als ich die Kur wegen des Conciliums unterbrechen musste. Wenn ich das geahnt hätte, dass sie getötet wird, ich wäre in Bamberg geblieben, und vielleicht wäre alles gar nicht geschehen.»
Oder beide Frauen wären ermordet worden, weil Gabriela Schauberg zufällig mit Margarete Müller zusammen gewesen wäre, überlegte sich Laubmann. Er behielt seinen unausgereiften Gedanken jedoch für sich, um seine neue Bekannte nicht noch mehr zu beunruhigen.
Stattdessen stellte er Fragen zur Lebensgeschichte Margarete Müllers und erfuhr so, wie vertraut sie mit ihrem Zwillingsbruder, dem Mesner, gewesen sei oder dass sie einen unehelichen Sohn habe und als ausgebildete Sekretärin mit für die Verwaltung des Säkularinstituts im Bruderwald zuständig war.
Laubmann hätte sich vieles davon aufgrund seiner kriminalistischen Neigung gerne notiert, doch die Kutsche wackelte zu sehr. Er gedachte Goethes. Der hatte mit Bleistift eine ganze Elegie während einer Kutschfahrt niedergeschrieben, im September des Jahres 1823, bei seiner Rückkehr aus dem böhmischen Marienbad und unglücklich verliebt in die junge Ulrike von Levetzow. Goethe war es also gelungen, trotz des Ruckelns der Kutsche zu schreiben.
«Von Ihren ‹kriminellen› Interessen hab ich schon gehört.» Gabriela Schauberg betrachtete Philipp nicht ohne Ironie.
«So was spricht sich herum.»
«Sie sind doch eigentlich Theologe. Und vielleicht möchten Sie Priester werden.»
Wieder der wunde Punkt, und wieder eine Frau, die danach fragte. «Ein heikles Thema für mich.» – Laubmann lenkte lieber ab. «Wie sind Sie zum Säkularinstitut gekommen? Und was haben Sie vorher gemacht?»
Noch einmal begann Gabriela Schauberg zu erzählen, und das beständige, gleichmäßige Rütteln der Kutsche versetzte ihre Erzählweise in einen eigentümlichen Rhythmus. Sie habe Germanistik und Geschichtswissenschaften fürs Lehramt studiert, sich aber vom Journalismus verführen lassen. Bald darauf habe sie sich häufig im Ausland aufgehalten und für Hochglanzmagazine über die High-Society und deren schrecklich tiefgründige Verwicklungen berichtet.
Laubmann hatte von Anfang an für die ihm weltgewandt erscheinende Art Gabriela Schaubergs etwas übrig. Er sah Gabriela in seiner Phantasie als eine ‹Grande Dame› auf internationalem Parkett.
«Mit den Jahren bin ich dieser ‹feinen› Gesellschaft einfach überdrüssig geworden», gestand die Schauberg, «ihrer Oberflächlichkeiten. Bei einem mittelalterlichen Mystiker habe ich damals den Satz gefunden: Der Mensch wälzt
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