Teuflische List
Dass wir ihm erlauben, sich zu waschen, und dass wir ihm eine ordentliche Mahlzeit geben?« Sie hielt kurz inne, um Luft zu holen. »Er sieht krank aus, Silas.«
»Das Essen wirst du schon kochen müssen«, sagte Silas nach einem Augenblick. »Ich tu’s bestimmt nicht.«
»Ich koche ja sowieso meistens«, entgegnete Jules.
»Und ich will nicht, dass er mein Bad benutzt.« Auchwenn Jules die meisten Nächte das ehemalige Elternschlafzimmer mit Silas teilte, hatte sie ihr eigenes Zimmer und das Bad behalten. »Und du kannst die Heizung ruhig wieder ausmachen. Es ist erst September.«
Jules funkelte ihn an. »Wir sollten wenigstens herausfinden, weshalb er gekommen ist.«
»Geld, nehme ich an«, sagte Silas.
»Davon haben wir ja auch genug, findest du nicht?«, erwiderte Jules.
Silas warf ihr einen jener kalten Blicke zu, von denen er wusste, dass sie sich danach elend fühlte, und zu seiner Zufriedenheit sah er, wie auch diesmal der Trotz aus ihren Augen verschwand.
»Bitte«, sagte sie. »Lass uns ihm wenigstens sagen, dass er heute Nacht bleiben kann.«
»Er wird länger bleiben wollen.«
»Oder auch nicht.«.
»Je mehr wir für ihn tun«, gab Silas zu bedenken, »desto mehr wird er wollen.«
»Ich sag ja nicht, dass wir mehr tun müssen«, erklärte Jules. »Lass ihn nur wenigstens diese eine Nacht hier bei uns bleiben.«
»Gut. Solange du akzeptierst, dass es nur bei dieser einen Nacht bleibt«, sagte Silas.
»Das tue ich«, bestätigte Jules.
Er wusste, dass sie log.
Als Jules am nächsten Morgen mit einer Tasse Tee ins Gästezimmer hinaufging, antwortete niemand auf ihr Klopfen.
Vorsichtig öffnete sie die Tür.
Die Tasse zitterte in ihrer Hand.
Paul Graves lag im Bett. Sein Gesicht war von einerseltsamen, hässlichen Farbe, und seine Augen waren weit geöffnet und starrten blicklos ins Nichts.
Jules bückte sich, stellte die Tasse auf den Teppich, zog sich aus dem Zimmer zurück und suchte Silas, der noch immer in dem Bett schlief, das Graves einst mit ihrer Mutter geteilt hatte.
»Er ist tot«, sagte Jules, als sie ihn wachrüttelte. »Silas, er ist tot .«
»Hm?« Er war noch ganz verschlafen.
»Silas, wach auf. Unser Vater ist tot .«
Er stieg aus dem Bett, zog sich ein T-Shirt über die Shorts und ging mit Jules zum Gästezimmer.
»Jep. Er ist tot«, stimmte er ihr zu.
Jules war in Tränen ausgebrochen. »Er sieht so … so komisch aus.«
»Nun ja, Tote sehen manchmal so aus.« Silas legte den Arm um sie. »Reg dich nicht auf, Jules.«
»Er ist unser Vater.«
»Nicht mehr«, erwiderte Silas.
Jules schluchzte und wandte sich zum Gehen.
»Wo willst du hin?«, fragte Silas.
»Zum Telefon«, antwortete sie. »Hilfe holen.«
»Warum?«, fragte er. »Für einen Rettungswagen oder für Doktor Isaacs ist es zu spät.«
Doktor Isaacs war schon seit Silas’ frühester Kindheit ihr Hausarzt.
»Wir müssen aber doch jemanden anrufen.« Jules rieb sich die Augen. »Wir brauchen doch eine … einen …« Sie suchte nach dem richtigen Wort. »Einen Totenschein oder so.«
»Glaub ich nicht«, erwiderte Silas.
»Aber etwas müssen wir doch tun.«
Silas streckte die Hand aus, und sie kam zu ihm. Erdrückte sie an sich und führte sie wieder zum Bett zurück. »Sieh ihn dir an, Schwesterherz«, sagte er. »Du hast gesagt, er sehe komisch aus, und du hattest Recht.«
Jules warf einen weiteren Blick auf den Toten und schloss rasch die Augen. Die Tränen rannen ihr über die Wangen.
»Es tut mir Leid, Liebling.« Silas blieb hart. »Aber was glaubst du, würden die Sanitäter oder Doktor Isaacs wohl sagen? Meinst du, sie würden einfach sagen: ›Ah ja, er ist tot. Hier, der Totenschein. Beerdigen Sie ihn‹?«
»Auch wenn sie das nicht tun«, Jules hatte die Augen wieder geöffnet, »was macht das schon? Sie würden trotzdem kommen, ihn mitnehmen, ihn untersuchen oder was weiß ich …«
»Jules«, unterbrach ihr Bruder sie. »Halt den Mund.«
Er führte sie aus dem Zimmer, schloss die Tür und holte ein Sweatshirt für sie, weil sie in ihrem Nachthemd zitterte. Dann brachte er sie in die Küche hinunter, setzte einen Kessel Wasser auf, machte ihr eine Tasse starken, süßen Tee und wartete, bis sie ein paar Schluck getrunken hatte.
»So«, sagte er dann. »Ich möchte, dass du mir jetzt gut zuhörst, Jules, okay?«
Sie nickte. Sie zitterte immer noch.
»Trink deinen Tee.«
»Das tue ich doch.«
»Wir werden niemanden anrufen, verstanden?« Silas setzte sich und rückte den
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