Teuflische List
Stuhl näher an Jules heran.
»Warum nicht?«, fragte Jules.
»Weil es die ganze Sache nur unnötig verkomplizieren würde.«
»Was meinst du damit? Sag mir, dass du nicht das Haus meinst.«
»Ich hab zwar nicht an das Haus gedacht, aber das ist ein Argument …«
»Silas, bitte!« Jules war angewidert.
»Ich will dir sagen, woran ich gedacht habe. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass jemand, den wir anrufen … wenn er ihn so sieht, wie er da liegt … dieser Jemand könnte durchaus auf den Gedanken kommen, dass er nicht nur seltsam aussieht, sondern dass auch sein Tod ein wenig seltsam war.«
»Was meinst du damit?«, fragte Jules sichtlich verwirrt.
»Sei nicht so naiv«, antwortete Silas. »Unser Vater verschwindet vor zehn Jahren, kommt wieder zurück, verbringt eine Nacht im Gästezimmer seines alten Hauses, das jetzt uns … ’tschuldigung, dir gehört, und du findest ihn am nächsten Morgen tot, und er sieht seltsam aus.«
»Aber genau das ist doch passiert«, sagte Jules.
»Das mag ja sein, aber das wird die Leute wohl nicht davon abhalten, darüber nachzudenken, ob wir etwas damit zu tun haben.«
Jules starrte ihn entsetzt an. »Das ist verrückt! Das würde niemand glauben.«
»Sie könnten aber.« Er beobachtete ihr Gesicht. »Aber es gibt nur eine Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass das nicht passiert.«
»Und wie?«
»Außer uns weiß niemand, dass er zurückgekommen ist«, erklärte Silas, »wahrscheinlich weiß nicht mal jemand, dass er noch gelebt hat. Wir sind seine einzigen Kinder, und nicht einmal wir haben es gewusst.«
Falten bildeten sich auf Jules’ Stirn. Silas streckte den Finger aus und versuchte, sie wegzustreichen.
»Also müssen wir ihn einfach nur begraben«, sagte er.
Jules schwieg.
»Im Garten.« Er sah, wie ein Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht erschien. »Wir dürfen nicht riskieren, dass er rausgebracht wird, Schwesterlein. Ich glaub nicht, dass dieser ganze Zirkus, dieses Leiche-in-Plastiksack was für mich wäre – und für dich sicher auch nicht.«
Jules starrte ihren Bruder einen Augenblick stumm an.
»Das ist ein Scherz, Silas. Bitte sag mir, dass es ein Scherz ist.«
»Unser Vater ist gerade gestorben«, erwiderte Silas. »Würde ich in einer solchen Situation Scherze machen?«
Er weihte sie in seinen Plan ein, erklärte ihr mit stetig wachsender Überzeugung, dass es richtig sei – das einzige auch nur annähernd Vernünftige, was sie unter den Umständen tun könnten.
Und auch wenn Jules ihm nicht einen Augenblick lang wirklich glaubte, wusste sie auch nicht, was sie sonst hätte tun sollen.
Die letzten zwei Jahre war Silas alles für sie gewesen, so wie sie alles für ihn gewesen war – das erkannte sie nun. Er war ihr Beschützer gewesen, hatte sie gepflegt, wenn sie krank war, und sie getröstet, als sie zum ersten Mal schmerzhaft ihre Periode gehabt hatte. Er hatte die Rechnungen bezahlt, hatte sich um Reparaturen gekümmert, das College geschwänzt, um sie beim Volleyball anzufeuern, hatte ihr bei den Hausaufgabengeholfen, ihre Aufsätze gelesen und ihr regelmäßig Bücher mitgebracht, von denen er geglaubt hatte, sie könnten ihr gefallen. Er hatte sie zu Freundinnen gefahren, oder ins Kino, oder wohin immer sie wollte; er hatte sie nach Einbruch der Dunkelheit gefahren, oder wenn das Wetter schlecht war, und hatte sie jedes Mal abgeholt, damit sie nicht die U-Bahn nehmen musste oder an einen miesen Taxifahrer geriet.
Er war und blieb der stärkste Einfluss in ihrem Leben.
Und so hatte sie auch diesmal nachgegeben, wie so oft in der Vergangenheit.
Sie warteten bis neun Uhr, als es dunkel war, bevor Silas sich an einem kleinen Beet im hinteren Teil des großen Gartens zu schaffen machte, wo jeden Frühling Narzissen blühten. Tagsüber lag das Beet im Schatten einer großen Eiche, sodass die Stelle – so hatte Silas sich ausgerechnet – ausreichend vor den Blicken der Nachbarsfamilie Brooks verborgen war.
»Sollten wir nicht lieber warten, bis es Nacht ist?«, fragte Jules ängstlich, als ihr Bruder zum ersten Spa-tenstich ansetzte. Doch noch während sie es sagte, wurde ihr klar, dass sie sich später noch genauso fühlen würde, egal um welche Uhrzeit sie … er … beginnen würde. »Wenigstens, bis die Brooks tief und fest schlafen?«
»Es ist besser, wir fangen jetzt an«, erwiderte Silas, »solange sie noch vor dem Fernseher hocken.«
»Und wenn sie gar nicht fernsehen?«, fragte Jules. »Wenn sie
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