Teuflische List
war.
Nicht an Charlie, und an keinem anderen.
Weil sie die Einsamkeit verdient hatte.
Von Zeit zu Zeit überlegte sie, dass sie sich schon vor Jahren hätte umbringen sollen. Sie hätte ein Bleichmittel trinken oder sich einen Sack mit Steinen um die Hüfte binden und sich in irgendeinem schmutzigen, kalten Kanal ersäufen sollen. Ein schmerzhaftes, hässliches Ende.
Ein Ende, wie sie es verdiente.
Sie hatte noch nicht einmal ein Recht auf ihre Musik, auf deren tröstliche Gesellschaft. Sie hatte kein Recht auf die vollen Klänge, die Harmonien und die Gefühle, die sie erweckten. Sie hatte kein Recht auf das Instrument, das es ihr ermöglichte, dies alles zu erleben.
Sie hatte kein Recht auf irgendetwas.
Alle hatten gesagt, es sei ein Unfall gewesen und sie ein Opfer.
Es sei nicht ihre Schuld gewesen.
Auch der Sheriff war zu diesem Schluss gelangt.
»Es ist alles meine Schuld«, hatte Abigail zu ihrer Mutter gesagt, die im Sterben lag.
»Das darfst du nicht sagen«, hatte Francesca Allen erwidert, leidenschaftlich bis zum Schluss. »Sag so etwas nicht … zu niemandem … schwöre es.«
Das waren die letzten Worte ihrer Mutter gewesen.
Damit hatte sie ihre Tochter in die Freiheit entlassen.
6.
Als Silas fünfzehn Jahre alt war, hatte Patricia Graves an einem Mittwochabend im Mai einen Fremden namens Graham Francis mit nach Hause gebracht, ein besonderes Dinner für ihren Gast und die beiden Kinder zubereitet (irgendetwas mit Fasan, Pilzen und Reis; Silas hatte es gehasst) und schließlich verkündet, dass sie wieder heiraten würde.
Silas und Julia – die inzwischen zehn Jahre alt war, groß, dünn und dunkel wie ihre Mutter und nicht einmal mehr hässlich (was sie nie gewesen war, wie Silas längst bemerkt hatte) – hatten einander hilflos angeschaut, während Patricia und Graham Francis Händchen gehalten hatten.
Mit zusammengebissenen Zähnen hatte Silas darauf gewartet, ob Francis gehen oder bleiben würde. Und dann, als der Fremde endlich gegangen war, nachdem er seiner Verlobten an der Tür einen keuschen Kuss auf die Wange gehaucht hatte, wartete Silas, bis Julia im Bett lag.
»Was ist mit unserem Vater?«, hatte er seine Mutter später gefragt, als sie den alten Geschirrspüler in der großen, komfortablen Küche füllte, die Silas so mochte.
»Euer Vater ist seit mehr als fünf Jahren fort, Liebling.«
»Aber er ist doch noch dein Mann, oder?«
»Nicht mehr, wenn die Scheidung erst durch ist.« Patricia schüttete Pulver ins Pulverfach und schaute ihrenSohn von der Seite an. »Wir haben doch darüber gesprochen, Silas.«
Er schwieg für einen Moment.
»Und was ist mit uns?«, fragte er dann angespannt. »Wenn du ihn heiratest, was wird dann aus dir und mir?«
»Zwischen uns wird sich gar nichts ändern, Liebling«, sagte Patricia.
Silas hatte mittlerweile genug Erfahrung, um zu wissen, dass das keine glatte Lüge war, sondern die Art seiner Mutter, sich nicht der Realität stellen zu müssen. Jede auch nur ansatzweise bedeutsame Veränderung führte zu Aufruhr und Durcheinander, manchmal nur kurzfristig, manchmal mit weiter reichenden Folgen … wie damals, als Silas seinen Platz an der Highgate School aufgeben musste, weil es seiner Mutter nach dem Verschwinden des Vaters finanziell viel schlechter ging. Wenn sie in dem Haus bleiben wollten, das sie alle liebten, hatte Patricia ihren Kindern damals erklärt, würden sie an anderer Stelle sparen müssen. Deshalb gingen Silas und »Jules«, wie Julia nun von den meisten Leuten genannt wurde, inzwischen auf öffentliche Schulen. Jules war glücklich dort; Silas war zwar nicht unglücklich, doch begeistert war er auch nicht gerade.
»Wird er nicht bei dir schlafen wollen?«, fragte er nun seine Mutter.
»Natürlich.« Sie schloss die Spülmaschine.
»Aber wir schlafen weiterhin zusammen«, sagte Silas.
Seine Mutter richtete sich auf, streckte die Hand aus und legte sie ihm auf den Arm. »Das wird sich nun wohl ändern müssen, Liebling«, sagte sie in freundlichem Tonfall. »Aber sonst bleibt alles beim Alten.«
»Und das«, sagte Silas, »ist das Einzige, was zählt.«
7.
Als Silas achtzehn war und Jules dreizehn, starben Patricia und Graham bei einem Skiurlaub in Andorra in einer Lawine, als sie die abgegrenzten Pisten verlassen hatten, um durch den hohen, jungfräulichen Schnee zu fahren.
»Das wär’s dann«, sagte Silas zu Jules. »Wir sind auf uns allein gestellt.«
Es gab niemand anders. Keine Onkel oder
Weitere Kostenlose Bücher