Teuflische List
dann – ob nun vor Schwäche oder aus einem persönlichen Bedürfnis heraus – sank sie im Gras auf die Knie.
Nicht um zu beten. Nicht einmal, um etwas zu fühlen.
Wenn ich jetzt etwas fühle, wird es mich überwältigen.
Sie erinnerte sich wieder an das Begräbnis. Dunkle Kleidung, düstere Gesichter, Blicke, die auf sie gerichtet waren, einige voller Mitleid, andere unverhohlen neugierig. Die Särge wurden in das große Grab hinabgelassen. Ihre Tante und ihr Onkel standen links und rechts neben ihr. Tante Betty hielt ihren Arm gepackt. Nicht zum Trost, erinnerte sich Abigail. Aus Pflicht.
Doch selbst das war mehr gewesen, als sie verdient hatte. Sehr viel mehr.
Mea culpa.
Sie stand rasch auf, bevor sie sich diesem Gefühl ergeben konnte.
Dann wandte sie sich von dem Grab ab. Sie sah Silas gut zehn Meter entfernt auf dem Weg stehen und sie beobachten, und sie fühlte heißen Zorn in sich aufwallen … und dann platzte diese Blase aus Wut und schmolz dahin.
Ihre Augen waren schmerzerfüllt.
Es war ihr eigenes Schicksal, das sie quälte.
Durch eine Wolke von Stechmücken ging sie langsam wieder zu ihrem Mann.
Auch damals waren hier überall Stechmücken gewesen.
»Okay?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht.«
Silas schaute zur Kirche. »Willst du reingehen?«
»Warum nicht?«, erwiderte Abigail.
In der Kirche war es dunkel, und es roch feucht. Sie hielt weder Trost noch Erinnerungen für Abigail bereit, und so blieben sie nicht lange. Beide wollten wieder ans Licht und an die frische Luft.
»Das ist nicht gerade ein tröstlicher Ort«, bemerkte Silas, als sie hinaustraten.
»Nein«, pflichtete sie ihm bei.
»Ich habe nachgedacht«, sagte er beiläufig, nachdem sie bereits ein paar Meilen gefahren waren. »Über die Kirche.«
»Was ist damit?«, fragte Abigail.
»Es ist nur …«, sagte er, »wenn du willst, könnten wir dann und wann zusammen gehen.«
»Warum?« Ihr Erstaunen war echt. »Warum sollten wir?«
»Ich dachte, dass es dich vielleicht ein wenig tröstet«, antwortete Silas.
»Nein«, erwiderte Abigail. »Mich nicht.«
»Wirklich?«, hakte er nach.
Sie bemerkte seinen veränderten, kühleren Tonfall und schaute ihn an. »Alles in Ordnung?«
»Warum sollte mit mir nicht alles in Ordnung sein?«, entgegnete Silas.
31.
Vierzehn Tage später, in der zweiten Augustwoche, beobachtete er sie erneut, wie sie mit dem Priester von St. Peter sprach.
Sie wirkte lebhaft.
Silas machte eine rasche Serie von Fotos, zoomte heran und schaute sich die beiden genauer an.
Er sah, dass der Priester Abigail bewunderte.
Dass das Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte.
Er fuhr viel zu schnell von der Kirche weg und jagte den Großteil des Weges nach Crouch End mit überhöhter Geschwindigkeit. Als er ein Polizeifahrzeug sah, wusste er, dass er von Glück reden konnte, dass man ihn nicht angehalten hatte; aber er raste trotzdem weiter.
Bußgelder oder Sicherheit waren ihm egal.
Wohin er auch sah, überall sah er ihre Augen, wie sie den Priester anschauten.
Die perfide Abeguile.
32.
Jules kam am folgenden Sonntag mit Olli zum Lunch. Sie freute sich über die Einladung und war keineswegs nachtragend, was die Distanziertheit ihres Bruders und ihrer Schwägerin in den vergangenen Wochen betraf.
»Du siehst besser aus«, sagte sie mitten beim Roastbeef zu Abigail. Sie saßen zu dritt an dem alten Küchentisch, Olli im Buggy zwischen seiner Mutter und seinem Onkel.
»Findest du?« Abigail lächelte sie an, spießte eine Röstkartoffel auf und blickte zu Silas.
»Für mich sieht Abigail immer wunderschön aus«, erklärte er ein wenig steif.
»Ich rede nicht von Schönheit«, stellte Jules klar und drehte sich dann wieder zu Abigail um. »Du wirkst ruhiger als letztes Mal, da ich dich gesehen oder längere Zeit mit dir verbracht habe.« Sie schaute zu Olli hinunter, streichelte ihm über die Wange und erhielt ein Gurgeln zur Antwort; dann fügte sie ohne Verbitterung hinzu: »Das war allerdings auch kurz nach Charlies Tod.«
»Damals stand ich unter Schock«, sagte Abigail.
»Natürlich«, sagte Jules.
»Aber du hast Recht«, pflichtete Abigail ihr bei. »Ich fühle mich im Augenblick tatsächlich so gut wie lange nicht mehr.«
Silas stand auf und verließ die Küche.
»Habe ich irgendwas Falsches gesagt?«, fragte Jules.
Abigail errötete, schüttelte den Kopf und legte Messer und Gabel beiseite. »Seit unserem gemeinsamen Wochenende ist er ein wenig angespannt«, sagte
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