Teuflische Stiche
wunderbares Lächeln, als ihre Augen feucht wurden. So sieht Glücklichsein aus, dachte Konnert.
Die Band begann, leise eine Melodie zu spielen. Erst summten die Menschen im Saal nur mit, um dann verhalten einen Chorus anzustimmen. Jeder sang in seiner Muttersprache. Konnert erinnerte sich, dass die Musikgruppe in seiner Gemeinde dieses Lied auch schon einmal vorgetragen hatte. Der deutsche Text fiel ihm aber nicht ein. Als Zahra sich zu ihm wandte und ihm die Worte auf Deutsch ins Ohr sang, erkannte er ihn wieder.
Die Musik wurde lauter. Es kam Bewegung in die Versammlung. Die Älteren begannen, im Rhythmus zu klatschen, während die Jungen ihre Oberkörper im Takt der großen Trommel bewegten. Einige stampften mit den Füßen. Nur Konnert stand steif da, staunte und traute sich weder zu singen, noch seine Hände zu bewegen. Er kam sich fremd vor, war gleichzeitig fasziniert und fühlte sich hineingezogen in die Begeisterung, mit der zur Ehre Gottes gesungen und getanzt wurde.
Ohne Unterbrechung fand die Band den Übergang zu einem weiteren Chorus und zum nächsten und zu noch einem. Niemanden hielt es auf den Stühlen. Auch Zahra tanzte und jubelte.
Dann wechselte der Rhythmus zu getrageneren Tonfolgen. Die Lautstärke ebbte ab, und schließlich erkannte Konnert die Melodie eines Chorals. Den Text wusste er auswendig. Zaghaft stimmte er mit ein. Zahra nahm seine Hand, schmiegte sich an ihn. Sie sangen gemeinsam. Konnert spürte, wie sich in ihm die Anspannung löste und auch seine Augen feucht wurden. Er blinzelte, um nicht zu weinen. Als die letzte Strophe gesungen war, hätte Konnert Zahra gern in den Arm genommen und geküsst.
Ein Hüne im schwarzen Anzug und mit der Figur eines Preisboxers sprang auf die Bühne. Zwischen den kräftigen Fingern der linken Hand klemmte eine in Leder gebundene Bibel. Die rechte Hand streckte er in die Luft und rief: »Halleluja! Schwestern und Brüder, der Herr ist gut!«
Wie auf Kommando schallte das Echo aus dem Saal zurück: »Halleluja! Der Herr ist gut!«
Aus dem Prediger brachen die Sätze wie Sturzbäche hervor. Mit einem Seitenblick in die Bibel sprudelten französische Worte aus seinem Mund, um dann von einem Moment auf den anderen den Text in Englisch vorzulesen. In rasender Geschwindigkeit entwickelte er seine Auslegung und wechselte pausenlos die beiden Sprachen.
Konnerts Gefühle pendelten im selben Tempo zwischen Faszination über die Sprachgewandtheit und Befremden wegen der für ihn übertriebenen Emotionalität hin und her. Sein Französisch lagerte unbenutzt in einer verstaubten Hirnwindung, aber seine Englischkenntnisse waren gut genug, um der Gedankenflut folgen zu können. Es ging um das Verhältnis des Offensichtlichen zu dem, was sich dahinter, im Unsichtbaren abspielt. »Beurteile andere nicht auf Grund von Äußerlichkeiten«, rief der Prediger. »Und vergesst nicht, dass für Gott die Herzenshaltung eines Menschen wichtiger ist als dessen Hautfarbe oder seine Stellung in der Gesellschaft.« Dem stimmte Konnert sofort zu, fragte sich aber im selben Augenblick, ob er selbst immer entsprechend handelte.
Zahra hatte längst Konnerts Hand losgelassen. Die Leidenschaft des Predigers übertrug sich auf sie. Begeistert klatschte sie nach besonders ausdrucksstarken Passagen Beifall oder murmelte »Ja!« oder »Genau!« und ballte zustimmend die Fäuste. Konnert betrachtete sie und ließ sich mehr von ihrer Begeisterung anstecken als von den Worten des Redners. Der erwartete am Ende seiner Predigt eine Entscheidung von seinen Zuhörern: »Wollt ihr besser auf euer eigenes Herz hören? Wollt ihr dem Charakter eines Menschen mehr Bedeutung einräumen als seinem Aussehen oder seinem Image in der Öffentlichkeit? Gebt mir ein Zeichen. Hebt die Hand.« Zahra riss beide Arme hoch, als wolle sie auch für Konnert mitentscheiden. Er fühlte sich so tief mit Zahra verbunden, wie er es nicht für möglich gehalten hatte.
Ein paar Stunden später, allein in seinem Bett, weinte Konnert die letzten Tränen seiner Trauerzeit.
Gleichzeitig fragte er sich, ob die Beziehung zu Zahra überhaupt eine Zukunft haben könnte. Sie ist so jung, so unbefangen, so dynamisch. Ich muss aus ihrer Perspektive uralt sein. Ich kenne mich doch. Ich habe meine Grundsätze und bin oft zögerlich.
Sonntag, 24. März
»Hey Lasse!« Konnert hob die rechte Hand, um im Vorraum der Friedenskirche mit seinem Enkel abzuklatschen.
»Nee, lass man Opa.«
»Was ist mit dir denn los?«
»Stress
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