The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Peinlicheres. Es musste ihm schrecklich unangenehm gewesen sein, wenn die Kollegen sich nach seinen Kindern erkundigten, in der Erwartung, sie wären Arzt oder Anwalt. Bestimmt hatten sie hinter seinem Rücken getuschelt, als ihnen klar wurde, dass ich in einer Bar arbeitete und nicht dort Stammgast war. Es war eine Notlüge, aber die Wahrheit hätte er niemals verkraftet: Dass ich eine Widernatürliche war, eine Kriminelle.
Und eine Mörderin. Bei dem Gedanken wurde mir erneut ganz schlecht.
»Ich weiß, dass ich mich da nicht einmischen sollte, aber ich denke, du solltest dich noch einmal an der Universität bewerben. Dieser Job führt doch zu nichts. Wenig Geld, keine Perspektive. Aber ein Studienplatz … «
»Nein.« Das klang härter als beabsichtigt. »Mir gefällt mein Job. Ich habe es mir so ausgesucht.«
Noch heute erinnerte ich mich daran, wie die Schuldirektorin mir mein Abschlusszeugnis überreicht hatte. »Es ist wirklich schade, dass du dich nicht an der Universität beworben hast, Paige«, hatte sie gesagt. »Aber vielleicht ist es besser so. Du hast einfach zu oft gefehlt, das wird bei jungen Damen nicht gern gesehen.« Damit hatte sie mir einen dünnen Lederordner in die Hand gedrückt, auf dem das Schulwappen prangte. »Hier sind die Karriereempfehlungen deiner Tutoren. Sie weisen vor allem auf deine Begabungen im Bereich der Leibesertüchtigung, der französischen Sprache und der Geschichtslehre von Scion hin.«
Mir war das egal. Ich hatte Schule immer gehasst: die Uniformen, die dogmatischen Regeln. Dort nicht mehr hinzumüssen, war für mich der Höhepunkt meiner Jugendzeit gewesen.
»Ich könnte da etwas arrangieren«, fuhr mein Vater fort. Er hätte so gerne eine gebildete Tochter gehabt. »Du könntest einen neuen Antrag stellen.«
»Vetternwirtschaft funktioniert bei Scion nicht«, gab ich zu bedenken. »Das solltest du doch wissen.«
»Ich hatte nie die Wahl, Paige.« In seiner Wange zuckte ein Muskel. »Ein solcher Luxus war mir nicht vergönnt.«
Auf dieses Gespräch hatte ich jetzt gar keine Lust. Ich wollte nicht daran denken, was wir zurückgelassen hatten.
»Wohnst du immer noch mit deinem Freund zusammen?«, fragte er plötzlich.
Die Lüge von dem Freund war schon immer blöd gewesen. Seit ich ihn erfunden hatte, fragte mein Vater ständig, wann er ihn kennenlernen könne. »Mit dem habe ich Schluss gemacht«, sagte ich deshalb. »Es hat nicht funktioniert. Aber es ist okay, Suzette hat in ihrer Wohnung ein freies Zimmer – du erinnerst dich doch bestimmt an sie.«
»Suzy aus der Schule?«
»Genau die.«
Noch während ich das sagte, fuhr ein stechender Schmerz in meine Schläfe. Hoffentlich machte er bald Essen. Ich musste dringend Jaxon anrufen und ihm berichten, was passiert war. Am besten sofort.
»Ich habe leichte Kopfschmerzen«, erklärte ich meinem Vater. »Macht es dir etwas aus, wenn ich früh schlafen gehe?«
Er kam zu mir rüber und umfasste mit einer Hand mein Kinn. »Ständig hast du diese Kopfschmerzen. Du bist übermüdet.« Mit dem Daumen strich er über die dunklen Schatten unter meinen Augen. »Im Fernsehen läuft eine interessante Dokumentation, falls du das noch schaffst. Ich werde es dir auf der Couch gemütlich machen.«
»Vielleicht morgen.« Sanft schob ich seine Hand fort. »Hast du irgendwelche Schmerzmittel im Haus?«
Er zögerte kurz, nickte dann aber. »Im Badezimmer. Und morgen früh mache ich uns dann ein großes Frühstück mit allen Schikanen, okay? Ich will hören, was es bei dir Neues gibt, seillean .«
Überrascht starrte ich ihn an. Er hatte mir kein Frühstück mehr gemacht, seit ich zwölf gewesen war. Und diesen Spitznamen hatte ich das letzte Mal von ihm gehört, als wir noch in Irland gelebt hatten. Das war jetzt zehn Jahre her, mein halbes Leben.
»Paige?«
»Okay. Dann bis morgen.«
Ich wandte mich ab und ging Richtung Schlafzimmer. Mein Vater sagte nichts mehr, ließ aber die Tür angelehnt, wie jedes Mal, wenn ich zu Hause war. Er hatte noch nie gewusst, wie er sich mir gegenüber verhalten sollte.
Im Gästezimmer war es wie immer warm. Es war mein altes Zimmer. Sobald ich mit der Schule fertig gewesen war, war ich nach Seven Dials gezogen, doch mein Vater hatte nie einen Untermieter aufgenommen – er brauchte keinen. Offiziell lebte ich immer noch hier. Es war schlicht einfacher, behördlich nichts daran zu ändern. Ich öffnete die Tür zum Balkon, der sich von meinem Zimmer bis rüber zur Küche erstreckte.
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