The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
ein Arsch. Genial, keine Frage, aber trotzdem ein kriecherischer, geiziger, kaltherziger Arsch wie alle Denkerfürsten. Doch an wen sollte ich mich sonst wenden? Mit einer Gabe wie meiner, wäre ich alleine viel zu verwundbar. Jax war das kleinere Übel.
Bei dem Gedanken musste ich grinsen. Es sagte eine Menge über die Welt aus, wenn Jaxon Hall das kleinere von zwei Übeln war.
Ich konnte jetzt nicht schlafen, ich musste mich vorbereiten. In einer der Schubladen, gut versteckt unter einem Stapel Ersatzklamotten, lag eine kleine Taschenpistole. Daneben bewahrte ich einen Erstdruck von Jaxons Flugblatt Über die Vorzüge der Widernatürlichkeit auf, in dem alle Haupttypen von Sehern aufgeführt waren, die er bei seinen Forschungen erfasst hatte. Mein Exemplar war mit seinen Anmerkungen übersät, von neuen Ideen bis hin zu Kontaktdaten diverser Seher. Nachdem ich die Pistole geladen hatte, holte ich einen Rucksack unter dem Bett hervor. Mein Notfallpaket, das nun seit zwei Jahren hier lagerte, war fertig gepackt für den Tag, an dem ich eiligst würde verschwinden müssen. Das Flugblatt stopfte ich in die Außentasche. So etwas durften sie nicht im Haus meines Vaters finden.
Voll bekleidet legte ich mich aufs Bett, die Pistole in der Hand. Irgendwo in der Ferne hallte Donner durch die Dunkelheit.
*
Ich musste wohl eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, stimmte etwas nicht.
Der Æther war zu zugänglich. Es waren Seher im Gebäude, schwere Stiefel auf der Treppe. Das war sicher nicht die alte Mrs Heron von oben, denn die benutzte eine Gehhilfe und fuhr immer mit dem Aufzug. Das waren die Stiefel eines Einsatzkommandos.
Sie kamen, um mich zu holen.
Hatten sie mich also doch gefunden.
Hastig sprang ich auf, warf mir eine Jacke über mein T-S hirt und zog mit fahrigen Bewegungen flache Schuhe und fingerlose Handschuhe an. Genau dafür hatte Nick mich ausgebildet: Damit ich die Beine in die Hand nahm. Wenn ich es ernsthaft versuchte, konnte ich es wohl bis zur U-B ahn-Station schaffen, aber damit würde ich meine Kondition ziemlich überstrapazieren. Besser suchte ich nach einem Taxi, das mich in Sektor 4 brachte. Für ein paar Shillings nahmen die lizenzlosen Fahrer so ziemlich jeden mit, selbst flüchtige Verbrecher.
Ich schulterte den Rucksack, steckte die Pistole in meine Jackentasche und öffnete die Balkontür. Der Wind hatte sie wieder zugedrückt. Schwere Regentropfen fielen auf meine Klamotten. Ich lief über den Balkon, kletterte auf den Sims des Küchenfensters, klammerte mich an die Dachkante und war mit einem kräftigen Zug oben. Als sie die Wohnung erreichten, rannte ich bereits los.
Peng. Das war die Wohnungstür. Kein Klopfen, keine Warnung. Im nächsten Moment zerriss ein Schuss die nächtliche Stille. Ich zwang mich, stur weiterzulaufen. Es gab kein Zurück mehr. Sie töteten niemals grundlos Amaurotiker, schon gar keine Mitarbeiter von Scion. Höchstwahrscheinlich hatten sie einfache Betäubungsmunition verwendet, um meinen Vater ruhigzustellen, während sie mich festnahmen. Um mich zu kriegen, würden sie allerdings etwas wesentlich Stärkeres brauchen.
In der Anlage war alles ruhig. Mit einem prüfenden Blick spähte ich über die Dachkante. Keine Spur von Vic, er war wohl wieder auf seiner Runde. Schnell hatte ich den Gefängniswagen auf dem Parkplatz entdeckt, ein Van mit verdunkelten Fenstern und weiß leuchtenden Scheinwerfern. Wer genauer hinsah, erkannte das Logo von Scion auf den Hecktüren.
Ein kurzer Sprung brachte mich auf das nächste Dach, wo ich auf ein Sims hinunterkletterte. Verdammt glatt. Schuhe und Handschuhe waren zwar rutschfest, trotzdem würde ich aufpassen müssen. Ich drückte mich mit dem Rücken an die Mauer und kroch langsam auf die Feuerleiter zu. Der Regen klebte lose Haarsträhnen an mein Gesicht. Ich kletterte auf einen schmiedeeisernen Balkon einen Stock höher, wo ich ein kleines Fenster aufstemmte. Anschließend stürmte ich durch die verlassene Wohnung, brachte drei Stockwerke hinter mich und rannte durch die Eingangstür raus aus dem Gebäude. Ich musste hier weg und in irgendeiner dunklen Gasse abtauchen.
Rote Lichter. Direkt vor dem Eingang parkte die NVD und blockierte meinen Fluchtweg. Ich machte kehrt und knallte die Tür zu. Automatisch aktivierte sich das Sicherheitsschloss. Mit zitternden Händen packte ich die Axt, die neben dem Feuerlöscher hing, zertrümmerte eines der Fenster im Erdgeschoss und zog mich in einen kleinen Innenhof, wobei ich
Weitere Kostenlose Bücher