The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
geschickt.«
»In die Zitadelle«, vermutete er. »Das kommt überraschend.«
»Wieso?«
»Nach all dem Aufwand, den sie betrieben hat, um dich aus der Zitadelle herauszuholen, mutet es doch seltsam an, dass sie dich nun dorthin zurückschickt.«
»Sie will, dass ich eine der Gangs von London aus ihrem Versteck locke, die Sieben Siegel. Sie denkt, die hätten einen Traumwandler in ihren Reihen, und dass ich meinesgleichen erkennen würde.« Ich unterbrach mich kurz, aber er reagierte nicht. Hatte er mich im Verdacht? »Wir gehen morgen Nacht, zusammen mit drei Rotjacken und noch einem anderen Rephait.«
»Wem?«
»Deiner Cousine.«
»Ah, ja.« Er legte die Fingerspitzen aneinander. »Situla Mesarthim ist Nashiras zuverlässigste Söldnerin. Bei ihr müssen wir sehr vorsichtig sein.«
»Dann wirst du mich also wieder als Sklavin behandeln.«
»Eine notwendige, aber vorübergehende Maßnahme. Situla ist mir nicht sonderlich gewogen. Sie wird ausgewählt worden sein, um ein Auge auf mich zu haben.«
»Warum das?«
»Verfehlungen aus der Vergangenheit.« Er bemerkte meinen Blick. »Es ist besser, wenn du nichts darüber weißt. Du musst lediglich eines wissen: Ich töte nur, wenn es absolut notwendig ist.«
Verfehlungen aus der Vergangenheit. Alte Wunden. Das konnte nur eines bedeuten, das wussten wir beide – was aber nicht garantierte, dass er heute noch vertrauenswürdig war. Selbst wenn er einer der Gezeichneten war.
»Ich brauche etwas Schlaf«, entschied ich. »Wir sollen morgen bei Sonnenuntergang in ihre Residenz kommen.«
Ohne mich anzusehen, nickte der Wächter. Ich griff nach meinen Stiefeln, die ich ausgezogen und neben dem Sofa abgestellt hatte, und überließ ihn seinem Heiltrank.
*
Statt den Großteil des Tages zu verschlafen, wie es sinnvoll gewesen wäre, malte ich mir jedes erdenkliche Szenario aus, das sich bei unserem Ausflug nach London entwickeln konnte. In einem kurzen Briefing nach dem Essen hatte 30 uns den Plan erläutert: Zunächst sollten wir abwarten, bis Carter am Fuß der Nelsonsäule auftauchte, wo sie einen Vertreter der Sieben Siegel treffen sollte. Dann würden wir sie umzingeln und mit voller Kraft zuschlagen. Sie glaubte anscheinend, wir könnten da einfach auftauchen, Carter erschießen, uns ein paar Gefangene schnappen und rechtzeitig zur Tagesglocke wieder in Sheol I sein.
Ich wusste es besser. Immerhin kannte ich Jax – er schützte seine Investitionen. Niemals würde er nur einen Vertreter zu dem Treffen mit Antoinette schicken, oh, nein, da würde die gesamte Gang auftauchen. Außerdem waren nachts ständig Wachen in den Straßen unterwegs, die ebenfalls wussten, wie man mithilfe von Geistern kämpfte. Dann mussten wir noch die unbeteiligten Passanten mit einkalkulieren und die Seher von der Straße – alles in allem konnte sich das zu einer riesigen Schlacht ausweiten. Einem Kampf, in dem ich die Uniform der einen Seite trug, während ich der anderen angehörte.
Ruhelos wälzte ich mich herum. Das war die Gelegenheit zur Flucht, oder um zumindest eine Botschaft zu senden. Irgendwie musste ich Nick erreichen, falls er mich nicht vorher tötete. Oder mich mit seinen Visionen blendete. Mir blieb nur diese einzige Chance.
Schließlich gab ich den Gedanken an Schlaf ganz auf. Ich ging ins Badezimmer, spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, band mir einen Pferdeschwanz und drehte ihn zu einem Knoten auf. Meine Haare waren etwas gewachsen und reichten mir jetzt bis auf die Schultern. Schwere Regentropfen klatschten gegen die Scheiben. Ich legte meine Uniform an, die rote Tunika des Verräters, und ging hinunter. Laut der Standuhr war es kurz vor sieben. Ich setzte mich an den Kamin. Als die Uhr zur vollen Stunde schlug, trat der Wächter durch die Tür, seine Haare und Klamotten waren völlig durchnässt.
»Es wird Zeit.«
Ich nickte. Er führte mich nach draußen, schloss hinter uns ab und ging neben mir die Treppe hinunter.
»Ich habe dir gar nicht gedankt«, stellte er fest, als wir durch den Kreuzgang schritten. »Für dein Schweigen.«
»Dank mir nicht zu früh.«
Die Straßen waren verlassen. Unter meinen Stiefeln knirschten schmelzende Hagelkörner. Als wir die Residenz erreichten, wurden wir von zwei Rephs in die Bibliothek geführt, wo Nashira bereits wartete. Wieder zogen sie und der Wächter ihr Begrüßungsritual durch – seine Hand an ihrem Bauch, ihre Lippen auf seiner Stirn. Diesmal fiel mir allerdings noch mehr auf: wie steif seine
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