The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
ihr vor dem Läuten der Tagesglocke zurück seid.«
Wir Menschen nickten. Der Wächter schlüpfte in einen Mantel und wandte sich zur Tür. » XX -40, XX -1«, rief er knapp.
Carl strahlte wie ein Kind beim Gezeitenfest. Er rannte hinter dem Wächter her und schob sich im Laufen die Pistole in die Jacke. Ich wollte ihm schon folgen, als Nashiras Handschuh sich um meinen Arm schloss. Reglos blieb ich stehen und unterdrückte den Impuls, mich loszureißen.
»Ich weiß, wer du bist«, hauchte sie dicht vor meinem Gesicht. »Und ich weiß, woher du kommst. Solltest du mir keinen Traumwandler bringen, gehe ich davon aus, dass meine Annahme korrekt ist und du die Fahle Träumerin bist. Eine solche Entdeckung hätte Folgen für uns alle.« Mit einem Blick, bei dem es mir kalt den Rücken runter lief, wandte sie sich ab und ging zur Tür. »Gute Reise, XX -59–40.«
*
An der Brücke warteten zwei abgedunkelte Fahrzeuge auf uns. Uns Menschen wurden die Augen verbunden, bevor sie uns einschlossen. Ich saß in der Dunkelheit neben Carl und lauschte auf das Motorengeräusch. Offenbar trieb sie die Angst um, dass wir uns den Weg aus der Kolonie einprägen könnten.
Zwar hatten sie einige Wachen abgestellt, um uns über die Grenze zu eskortieren, doch es war nur mit einem komplizierten Prozedere möglich, jemanden aus Sheol I hinauszulassen. Die Stadt war nichts anderes als eine Strafkolonie, und so betrieb man einen ähnlichen Aufwand wie bei Gefängnisinsassen auf Freigang. An einem von Scions Außenposten wurden uns Mikrochips unter die Haut geschossen, damit man uns im Falle eines Fluchtversuchs orten konnte, außerdem wurden unsere Fingerabdrücke und Auren überprüft. Als sie mir Blut abzapften, spürte ich noch länger den Schmerz in meiner Armbeuge. Ein blauer Fleck mehr … Endlich hatten wir die letzte Grenze hinter uns, und wir waren wieder zurück in SciLo. Zurück in der realen Welt.
»Ihr könnt die Augenbinden jetzt abnehmen«, gestattete der Wächter.
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.
Oh, meine Zitadelle. Mit der Hand fuhr ich über die Fensterscheibe. Das blaue Licht leuchtete mir in die Augen. Der Wagen fuhr gerade durch White City, Sektor II -3, vorbei an einem gigantischen Einkaufszentrum. Nie hätte ich gedacht, dass ich diese schmutzigen, trist grauen Straßen vermissen könnte, aber genau das war der Fall. Mir fehlten die Feilscherei bei Geisterauktionen, die Tarockspiele und die Ausflüge mit Nick, bei denen wir auf Gebäude kletterten, um uns den Sonnenuntergang anzusehen. Ich wollte aus diesem Wagen raus und mich in das giftige Herz von London stürzen.
Carl war am Anfang der Fahrt unruhig gewesen, hatte mit den Knien gewippt und an seiner Fluxpistole herumgefummelt, aber auf der Schnellstrasse war er dann eingeschlafen. Vorher hatte er mir noch erzählt, dass 30 früher Amelia geheißen habe, und ihr Hüter ein gewisser Elnath Sarin sei. Wie ich mir gedacht hatte, war sie ein Losorakel, spezialisiert auf Würfel. Es dauerte eine Weile, bis mir der Fachausdruck dafür einfiel: Astragalomant . Langsam rostete ich richtig ein. Früher hatte Jax mich täglich über alle sieben Kasten der Hellseherei ausgefragt.
Ich musterte den schlafenden Carl. Seine Haare mussten dringend gewaschen werden. An den dunklen Ringen unter seinen Augen erkannte ich, dass er genauso erschöpft sein musste wie ich – aber er hatte keine Blutergüsse. Offenbar hatte er sich durch noch mehr Verrat seine Sicherheit erkauft. Fast als würde er meinen Blick spüren, öffnete er die Augen.
»Versuch bloß nicht abzuhauen«, flüsterte er.
Als ich nicht antwortete, schob er sich dichter heran.
»Sie werden dich nicht gehen lassen. Er ganz sicher nicht.« Durch die Trennscheibe sah er zum Wächter. »In Sheol sind wir sicher. Warum willst du überhaupt weg?«
»Weil wir dort nicht hingehören.«
»Es ist sogar der einzige Ort, an den wir gehören. Da können wir als Seher leben. Wir müssen uns nicht verstecken.«
»Du bist doch kein Idiot, Carl. Dir muss klar sein, dass es ein Gefängnis ist.«
»Und die Zitadelle etwa nicht?«
»Nein, die nicht.«
Carl widmete sich wieder seiner Waffe. Ich blickte wieder aus dem Fenster.
Ein Teil von mir wusste, was er meinte. Natürlich war die Zitadelle ein Gefängnis – Scion sperrte uns dort ein wie Tiere – , aber in der Zitadelle standen wir nicht tatenlos daneben, wenn andere zusammengeschlagen wurden, oder ließen die Leute einfach auf der Straße verrecken.
Ich
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