The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
nehmen sollen.
Vielleicht war es ja tatsächlich dasselbe wie bei meinem Job. Ich spionierte die Leute schließlich auch aus. Doch ich sah mir dabei nicht ihre Vergangenheit an. Ich sah nur, welche Illusionen sie sich über sich selbst machten, aber nicht, was sie waren. Kleine Ausschnitte ihres Seins, die Nischen und Winkel, den sanften Schein einer fernen Traumlandschaft. Nicht so wie er. Jetzt wusste er alles über mich, selbst die geringste Kleinigkeit, die ich hatte verbergen wollen. Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass ich den Sieben Siegeln angehörte. Bereits seit dem allerersten Abend.
Aber er hatte es Nashira nicht verraten. Genau wie die Sache mit dem Schmetterling und dem Reh, hatte er meine wahre Identität vor ihr geheim gehalten. Dass ich dem Syndikat angehörte, hatte sie vielleicht erraten, aber von ihm hatte sie das nicht erfahren.
Ich zog die Bettvorhänge zurück. Goldene Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster und ließen die Instrumente und Bücher leuchten. Vor dem Fenster deckte Michael, der Amaurotiker, gerade den Frühstückstisch. Lächelnd sah er von seiner Arbeit auf.
»Hi, Michael.«
Er nickte.
»Wo ist der Wächter?«
Michael zeigte zur Tür.
»Hast du deine Zunge verschluckt?«
Kurzes Achselzucken. Ich setzte mich, woraufhin er mir einen Teller voller Pfannkuchen hinschob. »Ich bin nicht hungrig«, erklärte ich ihm. »Mit dem Frühstück will er doch nur sein schlechtes Gewissen beruhigen. Ohne mich.« Michael seufzte, schloss meine Finger um eine Gabel und stach sie in die Pfannkuchen. »Na schön. Aber ich bin nicht schuld, wenn ich alles wieder auskotze.«
Michael verzog das Gesicht. Um ihm eine Freude zu machen, streute ich noch braunen Zucker über die Pfannkuchen.
Michael ließ mich nicht aus den Augen, während er geschäftig im Zimmer herumwanderte, das Bett machte und die Vorhänge ausschüttelte. Die ersten Bissen weckten einen nagenden Hunger in mir. Schließlich verschlang ich sämtliche Pfannkuchen, zwei Croissants mit Erdbeermarmelade, eine Schale Cornflakes, vier Scheiben Toast mit Butter, eine Portion Rührei, einen knackigen roten Apfel, drei Tassen Kaffee und ein großes Glas eisgekühlten Orangensaft. Erst als ich absolut nichts mehr runterkriegte, überreichte mir Michael einen versiegelten braunen Umschlag.
»Vertrau ihm.«
Es war das erste Mal, dass er etwas sagte. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Vertraust du ihm denn?«
Er nickte, räumte den Tisch ab und war verschwunden. Und obwohl es heller Tag war, ließ er die Tür unverschlossen. Ich brach das Siegel auf dem Umschlag und faltete den dicken Briefbogen auseinander. Er war am Rand mit goldenen Schnörkeln verziert. Paige , stand dort.
Ich entschuldige mich dafür, dass ich dich so aufgeregt habe. Aber selbst wenn du mich verabscheust, sollst du wissen, dass ich lediglich versucht habe, dich zu verstehen. Dass du dich dem verweigert hast, kannst du schwerlich mir anlasten.
Seltsame Art, sich zu entschuldigen. Trotzdem las ich weiter:
Es ist noch Tag. Geh zum Haus. Dort wirst du Dinge finden, die ich dir nicht zur Verfügung stellen kann.
Beeil dich. Falls man dich anhält, sage den Wachen, dass du für mich frische Astern sammeln sollst.
Urteile nicht vorschnell, kleine Träumerin.
Ich zerknüllte den Brief und warf ihn in den Kamin. Schon indem er ihn geschrieben hatte, bewies der Wächter sein neu erworbenes Vertrauen in mich. Immerhin hätte ich damit direkt zu Nashira laufen können. Mit Sicherheit würde sie seine Handschrift erkennen. Aber ich wollte Nashira auf keinen Fall irgendwie in die Hände spielen. Ich hasste den Wächter dafür, dass er mich hier festhielt, aber ich musste unbedingt in das Haus reinkommen.
Also ging ich nach oben und legte meine neue Uniform an: gelbe Tunika mit gelbem Anker auf der Weste. Es war ein sattes leuchtendes Sonnengelb, das man schon von Weitem sah. 40, der Feigling. 40, die Versagerin. Irgendwie gefiel es mir. Es zeigte, dass ich mich Nashiras Befehlen widersetzt hatte. Ich hatte nie eine Rotjacke sein wollen.
Langsam und nachdenklich stieg ich wieder die Treppe in sein Zimmer hinunter. Ich wusste immer noch nicht, ob ich einen Aufstand organisieren wollte, aber weg wollte ich auf jeden Fall. Für den Weg nach Hause würde ich Vorräte brauchen: Essen, Trinken, Waffen. Hatte er nicht gesagt, die rote Blume könne ihnen Schaden zufügen?
Die Schnupftabakdose stand auf dem Tisch, der Deckel war aufgeklappt. Darin befanden sich
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