The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
verschiedene Pflanzenproben: Lorbeerzweige, Ahorn- und Eichenblätter, Mistelbeeren, blaue und weiße Astern und ein Päckchen mit getrockneten Blättern, auf dem SALVIA DIVINORIUM stand. Sein Numen. Ganz unten befand sich noch ein versiegeltes Fläschchen mit einem feinen, bläulich-schwarzen Pulver. Es trug die Aufschrift ANEMONE CORONARIA . Als ich den Korken rauszog, schlug mir ein penetranter Geruch entgegen – die Pollen der roten Blume. Diese süßen kleinen Körnchen könnten für meine Sicherheit sorgen. Ich verschloss das Fläschchen sorgfältig und schob es in meine Westentasche.
Tagsüber waren draußen bestimmt Wachen postiert, aber an denen würde ich schon vorbeikommen. Ich hatte da so meine Methoden. Und ganz egal, als was Nashira Sargas mich eingestuft hatte, ich war keine Gelbjacke. Ich war die Fahle Träumerin.
Und es wurde Zeit, ihr das zu beweisen.
*
Mühelos brachte ich die Lüge vom Asternsammeln für meinen Hüter über die Lippen und schlug vor, eventuelle Schwierigkeiten direkt mit ihm zu klären. Der Tagesportier schien nicht sonderlich erpicht darauf zu sein. Als er in seinem Buch nachgelesen hatte, wer genau mein Hüter war, warf er mich quasi hinaus. Er sagte nicht einmal etwas zu meinem Rucksack. Niemand wollte den Zorn von Arcturus Mesarthim auf sich ziehen.
Die Stadt bei Tag zu sehen, war merkwürdig. Ich ahnte schon, dass die Broad Street verlassen sein würde – es fehlten einfach die üblichen Geräusche und Gerüche – , aber ich musste noch etwas tun, bevor ich das Haus erreichte. Also suchte ich mir meinen Weg durch die Holztunnel des Hüttenviertels. Aus sämtliche Ritzen und Spalten tropfte Wasser, wohl die Folge eines Sturms. Als ich die richtige Hütte gefunden hatte, schlug ich den schäbigen Vorhang zurück. Julian schlief. Er hatte einen Arm um Liss geschlungen, um sie zu wärmen. Ihre Aura flackerte wie eine Kerzenflamme, die kurz vor dem Erlöschen steht. Vorsichtig hockte ich mich hin und leerte meinen Rucksack. Das Essenspaket stopfte ich in Julians Armbeuge, damit eventuell vorbeikommende Wachen es nicht sahen, dann deckte ich die beiden mit einer sauberen weißen Decke zu. Außerdem deponierte ich in dem Schränkchen ein Paket Streichhölzer.
Der Anblick ihres Elends bestärkte mich in meinem Entschluss. Sie brauchten mehr als das bisschen, was ich im Founder’s Tower zusammengeklaut hatte. Was sie brauchten, befand sich im Haus.
Die Bewusstseinsstarre war ein langsam fortschreitender Prozess. Man musste sich hindurchkämpfen, mit jedem noch so kleinen Teil seines Ichs dagegenangehen. Nur die Stärksten überlebten das. Bis auf ein paar fließender, klarer Momente war Liss nicht mehr zu Bewusstsein gekommen, seit ihre Karten zerstört worden waren. Wenn sich ihr Zustand nicht bald besserte, würde sie ihre Aura verlieren und der Amaurose erliegen. Ihre einzige Hoffnung bestand in einem neuen Satz Karten, und selbst dann gab es keine Garantie dafür, dass sie eine Bindung zu ihnen aufbauen konnte. Ich würde jedenfalls das Haus so lange auf den Kopf stellen, bis ich welche für sie fand.
Auf der Straße waren keine Wachen zu sehen, aber mir war klar, dass sie irgendwo lauerten. Nur um sicherzugehen, kletterte ich auf eines der Gebäude und suchte mir einen Weg über die Dächer, indem ich mithilfe von Simsen und Pfeilern über die Stadt hinwegschlich. Ich achtete so gut es ging darauf, wo ich meine Füße hinsetzte, kam aber nur langsam voran: Mein rechter Arm war steif wie bei einer Puppe, und mein ganzer Körper war von dumpf schmerzenden Blutergüssen übersät.
Das Haus erkannte man schon aus der Ferne. Seine beiden Türme ragten gut sichtbar im Nebel auf. Kurz bevor ich es erreichte, stieg ich in eine Gasse hinunter – der Abstand zur nächsten Mauer war zu groß, um zu springen. Jenseits dieser Wand befand sich also das eine Gebäude, das ausschließlich Rephaim betreten durften.
Lange Zeit starrte ich auf die Steine vor mir. Der Wächter steckte schon zu tief mit drin, um mich jetzt noch zu verraten. Aus irgendeinem Grund half er mir – und Liss zuliebe musste ich das akzeptieren. Außerdem konnte ich ihm mithilfe des goldenen Bandes jederzeit eine Nachricht schicken, falls ich in Schwierigkeiten geriet. Wenn ich denn schnell genug herausfand, wie das funktionierte. Und wenn ich damit leben konnte. Ich kletterte auf die Mauer, schwang mich darüber und landete im hohen Gras.
Wie viele der Residenzen war auch dieses Gebäude um mehrere
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