The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
lang lehnte ich mich erschöpft an die Wand und schlug die Hände vors Gesicht. Ivy hatte von mir gesprochen.
Darüber konnte ich jetzt nicht nachdenken. Vielleicht war ihr Peiniger immer noch im Gebäude. Ganz langsam richtete ich mich auf und drehte mich zu der zweiten Tür um. Der Schlüssel steckte. Ich warf einen Blick in den Nachbarraum. An den Wänden hingen verschiedene Waffen: Schwerter, Jagdmesser, eine Armbrust und eine Schleuder mit Stahlgeschossen. Hier lagerten sie offenbar die Waffen, mit denen die Rotjacken ausgerüstet wurden. Ich schnappte mir ein Messer. Am Griff funkelte ein Anker – ein Scion-Produkt. Weaver schickte also Waffen hierher, während er und seine Minister im Archonitat saßen, weit weg von diesem Leuchtfeuer im Æther.
Julian hatte recht. Ich konnte nicht einfach abhauen. Ich wollte, dass Frank Weaver Angst bekam. Er sollte die Angst eines jeden gefangenen Sehers zu spüren bekommen, den er jemals deportiert hatte.
Ich zog die Tür hinter mir zu und verschloss sie. Als ich anschließend den Blick hob, starrte ich direkt auf eine große, vergilbte Landkarte. STRAFKOLONIE SHEOL I, stand darüber. OFFIZIELLES HOHEITSGEBIET DER PROTEKTOREN . Ich sah sie mir genauer an. Sheol I war rund um die großen Residenzen errichtet worden und verlief sich dann in Richtung der Außenanlagen und des Waldes. Alle vertrauten Fixpunkte waren eingezeichnet: Magdalen, das Haus der Amaurotiker, die Residenz der Protektoren, Hawksmoor … und Port Meadow. Vorsichtig löste ich die Karte von der Wand und starrte angestrengt darauf. Die aufgedruckten Buchstaben neben dem Namen waren verwischt, aber gerade noch zu erkennen. Bahn .
Krampfhaft schlossen sich meine Finger um die Karte. Die Bahn. Darauf war ich überhaupt nicht gekommen. Wir waren alle mit dem Zug hergebracht worden – warum sollten wir nicht damit von hier wegkommen?
Meine Gedanken überschlugen sich. Warum, warum hatte ich daran nicht gedacht? Ich musste mich gar nicht durch das Niemandsland kämpfen. Musste nicht kilometerweit laufen und an den Emim vorbeikommen, um die Zitadelle zu erreichen. Ich musste nichts anderes tun, als den Zug zu finden. Und ich konnte andere mitnehmen – Julian, Liss, einfach alle. In eine normale Bahn von Scion passten vierhundert Menschen, sogar noch mehr, wenn man die Stehplätze mitrechnete. Damit konnte ich jeden einzelnen Gefangenen aus der Stadt schaffen und hatte sogar noch Plätze für mehr.
Wir würden dennoch Waffen brauchen. Selbst wenn wir uns tagsüber und in kleinen Gruppen auf das Gelände schlichen, würden die Rephaim uns verfolgen. Außerdem war der Eingang vielleicht bewacht. Ich entdeckte ein Messer samt Scheide und schob es in meinen Rucksack. Als Nächstes stöberte ich ein paar Pistolen auf. Die Taschenpistole, ein ähnliches Modell wie meine, war auf jeden Fall praktisch: klein, leicht zu verstecken, und ich wusste, wie man damit umging. Auf einem Metallkasten lagen einige unleserliche Schriftstücke, die ich mit dem Arm beiseiteschob. In der Zitadelle hatte Nick versucht, den Wächter zu erschießen, was aber nichts gebracht hatte. Bei loyalen Rotjacken waren Kugeln vielleicht wirksam, aber um mit den Rephs fertigzuwerden, würden wir mehr brauchen als nur Schusswaffen. Gerade griff ich nach einer Schachtel mit Munition, als ich plötzlich Schritte hörte.
Ohne zu zögern, schlich ich zu einem Regal hinüber und quetschte mich dahinter. In allerletzter Minute, denn schon fiel der Schlüssel aus dem Loch und zwei Rephs kamen herein.
Damit hätte ich rechnen müssen, mein Rückweg war versperrt. Wenn ich zum Fenster kroch, würden sie mich entdecken, und jeder hier kannte mein Gesicht. Vorsichtig spähte ich zwischen den Regalbrettern hindurch.
Thuban.
Er sagte etwas auf Gloss. Da ich seinen Begleiter auch noch identifizieren wollte, lehnte ich mich ein wenig vor. In diesem Moment trat Terebell Sheratan genau vor mein Versteck.
Keiner von uns rührte sich. Mein Herz verweigerte den Dienst, während ich darauf wartete, dass sie nach Thuban rufen oder mir einfach eine Klinge in den Bauch rammen würde. Es juckte mich in den Fingern, die Pollen aus meiner Weste zu ziehen, aber das wäre dumm gewesen. Selbst wenn ich damit Terebell ausschalten konnte, blieb immer noch Thuban, um mich abzustechen.
Doch Terebell verblüffte mich. Statt meine Anwesenheit zu verraten, richtete sie ihren Blick auf die Pistolen. »Die Waffen der Amaurotiker haben etwas Faszinierendes an sich«, sagte sie.
Weitere Kostenlose Bücher