The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
von Geistern zu Bildern angeordnet oder in bestimmte Richtungen gelenkt wurden. Dabei wurden die verschiedensten sortes eingesetzt: Nadeln, Würfel oder Schlüssel. Eine besondere Gruppe unter ihnen, die Knochenorakel, bevorzugten kleine Knochen, doch normalerweise verwendete man aus Respekt vor den Toten nur sehr alte Skelette. Wenn Kraz für seine Zwecke die Gerippe kleiner Kinder gestohlen hätte, war ich froh, ihn getötet zu haben.
»Ich bin dankbar, dass er tot ist«, fuhr der Wächter fort. »Er war eine echte Plage für diese Welt.«
Ich antwortete nicht.
»Du fühlst dich schuldig«, stellte er fest.
»Ich habe Angst.«
»Angst wovor?«
»Vor dem, wozu ich in der Lage bin. Immer wieder … « Erschöpft schüttelte ich den Kopf. »Immer wieder töte ich. Ich will keine Waffe sein.«
»Deine Gabe mag explosiv sein, aber sie erhält dich am Leben. Sie dient dir als Schild.«
»Sie ist kein Schild, sie ist eine Bombe. Und die Zündschnur ist verdammt kurz.« Blind starrte ich auf den gemusterten Teppich. »Ich verletze andere. Das ist meine Gabe.«
»Nicht absichtlich. Dir war nicht immer bewusst, wozu du fähig bist.«
Ich rang mir ein hohles Lachen ab. »Oh, doch, ich wusste, dass ich das konnte. Mir war zwar nicht klar, wie , aber ich wusste, wer dafür verantwortlich war, dass diese Menschen bluteten. Und wer die Kopfschmerzen bei ihnen auslöste. Wann immer mir jemand dumm kam, wann immer sie Anspielungen auf die Rebellion in Irland machten, mussten sie leiden. Und das nur, weil ich ihnen einen mentalen Stups gegeben hatte. Das hat mir irgendwie sogar gefallen«, sagte ich. »Selbst mit zehn hat mir das schon gefallen. Es war toll, zurückzuschlagen. Das war mein kleines Geheimnis.« Ohne eine Regung sah er mich an. »Ich bin nicht wie die Sensoriker oder die Medien. Ich nutze Geister nicht nur, damit sie mir Gesellschaft leisten oder mich verteidigen. Nein, ich bin eine von ihnen. Begreifst du das? Ich kann sterben, wann immer ich will, kann zum Geist werden, wann immer ich will. Deshalb haben die Leute Angst vor mir. Und ich habe Angst vor ihnen.«
»Es stimmt, du bist anders als sie. Aber das bedeutet nicht, dass du sie fürchten musst.«
»Doch, das muss ich. Mein Geist ist gefährlich.«
»Du fürchtest dich nicht vor Gefahr, Paige. Ich glaube sogar, dass du durch sie aufblühst. Als du zugestimmt hast, für Jaxon Hall zu arbeiten, war dir bewusst, dass sich deine Lebenszeit dadurch drastisch verkürzen würde. Und du wusstest, dass ihr jederzeit entdeckt werden könntet.«
»Ich brauchte das Geld.«
»Dein Vater arbeitet für Scion. Es ging nicht um Geld. Wahrscheinlich hast du das überhaupt nicht angerührt. Die Gefahr bringt dich in dichteren Kontakt mit dem Æther«, präzisierte er. »Deshalb stürzt du dich auf jede Gelegenheit, bei der du sie spüren kannst.«
»Das war nicht der Grund. Ich bin nicht irgendein Adrenalinjunkie. Ich wollte einfach mit anderen Sehern zusammen sein.« Langsam wurde ich wütend, und das hörte man auch. »Und ich wollte nicht wie ein braves Schulmädchen leben, das die Gehirnwäsche von Scion verinnerlicht hat. Stattdessen wollte ich Teil von etwas Größerem sein. Ich wollte etwas bewegen . Kannst du das nicht verstehen?«
»Alles gute Gründe, aber nicht die einzigen. Du hast dabei an eine ganz bestimmte Person gedacht.«
»Hör auf.« Meine Lippen zitterten.
»Du hast an Nick gedacht.« Sein Blick hielt mich unerbittlich fest. »Du hast ihn geliebt. Ihm wärst du einfach überallhin gefolgt.«
»Darüber will ich nicht reden.«
»Warum nicht?«
»Weil das nur mich etwas angeht. Das ist privat. Habt ihr Oneiromanten denn überhaupt eine Ahnung, was Privatsphäre bedeutet?«
»Du hast das viel zu lange geheim gehalten.« Obwohl er mich nicht berührte, war sein Blick fast ebenso intim. »Während du wach bist, habe ich keinen Zugriff auf diese Erinnerung. Doch sobald du einschläfst, werde ich die Bilder in deinem Bewusstsein sehen, und du wirst davon träumen, wie auch bei den anderen Gelegenheiten. Das beinhaltet die Gabe eines Oneiromanten: gemeinsame Träume zu erschaffen.«
»Dir wird bestimmt nie langweilig«, ätzte ich. »Ständig wühlst du in der Schmutzwäsche anderer Leute.«
Er ignorierte den Seitenhieb.
»Natürlich kannst du lernen, mich abzuwehren, doch dazu müsstest du meinen Geist ebenso gut kennen wie deinen eigenen. Und ein Geist, der so alt ist wie meiner, lässt sich nur schwer ergründen.« Er zögerte kurz. »Oder
Weitere Kostenlose Bücher