The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
du sparst dir die Mühe und lässt mich freiwillig in dich hineinsehen.«
»Was sollte das bringen?«
»Diese Erinnerung ist wie eine Barriere. Ich habe sie in dir gespürt, tief in deiner Traumlandschaft vergraben.« Er sah mich unverwandt an. »Überwinde sie, und sie wird dich nicht länger einschränken. Dein Geist wird befreit sein.«
Ich holte tief Luft. Eigentlich sollte dieses Angebot nicht verlockend sein. »Und dazu muss ich einfach nur schlafen?«
»Ja. Ich könnte dir dabei helfen.« Er nahm eine Handvoll trockener, brauner Blätter aus der Schnupftabakdose. »Das sind die Kräuter, aus denen deine Tabletten bestehen. Wenn ich einen Sud für dich vorbereite, wirst du ihn trinken?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Was ist schon eine Dosis mehr oder weniger?«
Der Wächter musterte mich eine Weile.
»Nun denn.«
Er verließ das Zimmer. Wahrscheinlich gab es unten irgendwo eine Küche, wo auch Michael arbeitete.
Erschöpft ließ ich den Kopf in die Kissen sinken. Ein kalter Schauer wanderte langsam durch meine Brust, setzte sich zwischen meinen Rippen fest. Ich hatte den Wächter mit solcher Inbrunst gehasst, einerseits für das, was er war, andererseits, weil er mich zu verstehen schien. Aus diesem Hass hatte ich Kraft gezogen. Und nun würde ich ihm meine intimste Erinnerung zeigen. Ich glaubte zu wissen, welche er meinte, aber sicher war ich mir nicht. Dazu würde ich von ihr träumen müssen.
Als der Wächter zurückkam, war ich von trotziger Gewissheit erfüllt. Ich nahm den Glaskelch entgegen, den er mir reichte. Er war bis zum Rand mit einer klaren, hellbraunen Flüssigkeit gefüllt, die mich an verdünnten Honig erinnerte. An der Oberfläche trieben drei Blätter. »Er schmeckt bitter«, warnte mich der Wächter. »Aber damit werde ich die Erinnerung deutlicher sehen können.«
»Was hast du denn bisher gesehen?«
»Fragmente. Phasenweise Stille. Das hängt davon ab, wie du dich in dem entsprechenden Moment gefühlt hast, wie stark deine Emotionen waren. Und wie sehr dieser Teil der Erinnerung dich noch belastet.«
Ich musterte den Sud. »Dann glaube ich nicht, dass ich das hier brauchen werde.«
»Es wird es dir leichter machen.«
Wahrscheinlich hatte er recht. Allein beim Gedanken daran, mich dieser speziellen Erinnerung zu stellen, fingen meine Hände an zu zittern. Mit dem Gefühl, mein Leben nun ein zweites Mal in fremde Hände zu geben, hob ich den Kelch an die Lippen.
»Warte.«
Ich hielt inne.
»Du musst mir diese Erinnerung nicht zeigen, Paige. Um deiner selbst willen hoffe ich, dass du es tust. Aber du kannst Nein sagen. Ich werde deine Privatsphäre respektieren.«
»So grausam bin ich nicht. Es gibt nichts Schlimmeres als eine Geschichte ohne Schluss.« Bevor er noch etwas erwidern konnte, trank ich den Sud.
Er hatte gelogen: Das Zeug war nicht einfach nur bitter – es war das Ekelhafteste, was ich je geschmeckt hatte, als hätte ich den Mund voller Metallspäne. Schon beim ersten Schluck beschloss ich, dass ich lieber Bleiche trinken würde, als jemals wieder mit Salviasud in Berührung zu kommen. Ich musste würgen. Der Wächter umschloss sanft mit den Händen mein Gesicht. »Du musst es drin behalten, Paige. Behalte es bei dir!«
Ich gab mir alle Mühe. Ein wenig lief zurück in den Kelch, aber das meiste schaffte es bis in meinen Magen. »Was jetzt?« Ich hustete.
»Abwarten.«
Es dauerte nicht lange. Als die Übelkeit mich krampfartig überfiel, krümmte ich mich auf dem Sofa zusammen. Der Geschmack war so intensiv, dass ich glaubte, ihn nie mehr von meiner Zunge zu bekommen.
Dann gingen die Lichter aus. Ich sackte zusammen und driftete in die Dunkelheit.
Kapitel Fünfundzwanzig
A UFLÖSUNG
Wir standen im Kreis, wie bei einer Séance. Sechs der Sieben Siegel.
Nadine war kurz davor, jemanden umzubringen. Das spiegelte sich klar und deutlich in ihrer Miene.
In der Mitte des Kreises war Zeke Sáenz mit Samtkordeln an einen Stuhl gefesselt, sein Kopf ruhte zwischen den Händen seiner Schwester. Seit Stunden gingen wir nun schon auf sein Bewusstsein los, ganz egal, wie sehr er sich wehrte und ächzte, Jax ließ nicht locker. Falls wir seine Gabe erlernen konnten, wäre es ein Gewinn für die Gang: die Fähigkeit, sich sämtlichen äußeren Einflüssen zu widersetzen, sowohl denen der Geister als auch anderer Seher. Deshalb saß Jax nun in seinem Stuhl, rauchte eine Zigarre und wartete darauf, dass einer von uns ihn brach.
Er hatte Zeke lange studiert. Wir
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