The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
stellte mich vor den Spiegel. Der Schnitt leuchtete grellrot auf meiner hellen Haut. Machte es ihm etwas aus, mich so zu sehen, selbst nachdem, was Jax mir angetan hatte? Wurde er durch den Anblick meines Gesichts an seine eigenen Narben erinnert – jene auf seinem Rücken, die er verborgen hielt?
Aus meinen Haaren stieg ein süßlicher Geruch auf. Die Pollen. Ich schloss mich im Bad ein, riss die Kleider von mir und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen. Meine Beine zitterten. Beim Klettern hatte ich mir das Knie aufgeschürft.
Vorsichtig ließ ich mich ins Wasser sinken und wusch mir die Haare. Ältere blaue Flecken pochten in der Wärme, während sich über ihnen bereits neue bildeten. Ich gönnte mir ein paar Minuten, in denen ich meine verkrampften Muskeln lockerte, dann griff ich nach einem unberührten Stück Seife und schrubbte Schweiß, Blut und Pollen ab. Nach der Behandlung sah mein eingefallener, zerschundener Körper allerdings nicht viel besser aus. Erst nachdem ich das Wasser abgelassen hatte, beruhigte ich mich langsam.
Sollte ich ihm von meinem Plan mit der Bahn erzählen? Vielleicht würde er versuchen, mich aufzuhalten. Immerhin hatte er mich zurückgeholt, als er mich genauso gut hätte gehen lassen können. Andererseits musste ich wissen, ob es an der Bahn Wachen gab und wo genau auf dem Trainingsgelände ich den Zugang finden konnte. Von unseren Übungsstunden dort erinnerte ich mich an nichts, keine Luken, keine Türen. Er musste also versteckt sein.
Als ich ins Zimmer zurückkehrte, fand ich im Kleiderschrank tatsächlich eine gelbe Uniform. Außerdem waren die Pollenflecken aus dem Teppich gebürstet worden. Ich ließ mich auf das Sofa sinken. Mit einem einzigen Schuss zwischen die Augen hatte ich Kraz Sargas erledigt, den Blutserben der Rephaim. Bis zu diesem Moment war ich davon ausgegangen, dass sie zu stark wären, um sie zu töten. Es musste an den Pollen liegen … die Kugel hatte ihm nur noch den letzten Stoß versetzt. Als ich den Turm verlassen hatte, war seine Leiche bereits vor meinen Augen verrottet. Ein paar Körnchen Blütenstaub hatten seine Zersetzung ausgelöst.
Die Tür öffnete sich, und ich zuckte erschrocken zusammen. Der Wächter war zurück. Seine Miene war finsterer als die Schatten in den Ecken des Raums.
Er kam zu mir rüber und setzte sich neben mich. Stumm tauchte er einen Wattebausch in das Gläschen in seiner Hand, das eine goldene Flüssigkeit enthielt, und tupfte das Blut von meiner Wange. Ebenso schweigend beobachtete ich ihn und wartete auf den Urteilsspruch. »Kraz ist tot«, sagte er schließlich vollkommen ausdruckslos. Heißer Schmerz zuckte durch meine Wange. »Er war der rechtmäßige Erbe der Blutsherrscher. Wenn sie es herausfinden, wirst du öffentlich gefoltert. Sie wissen, dass Vorräte gestohlen wurden, aber niemand hat dich gesehen. Der Tagesportier wurde zum Schweigen gebracht.«
»Verdächtigen sie mich?«
»Insgeheim vielleicht, aber sie haben keine Beweise. Zum Glück hast du ihn nicht mithilfe deines Geistes getötet, sonst wäre deine Identität jetzt bekannt…«
Das Zittern verstärkte sich. Typisch für mich, jemand so Wichtigen zu töten, ohne überhaupt zu wissen, wer es war. Wenn Nashira davon Wind bekam, würde ich als eine ihrer Totenmasken enden. Ich konzentrierte mich wieder auf den Wächter.
»Was haben die Pollen mit Kraz angestellt? Seine Augen … sein Gesicht … «
»Wir sind nicht, was wir zu sein scheinen, Paige.« Er sah mich prüfend an. »Wie viel Zeit verging zwischen seinem Kontakt mit den Pollen und dem Schuss?«
Dem Schuss . Nicht dem Mord … Er hatte gesagt dem Schuss , als wäre ich nur ein unbeteiligter Zuschauer gewesen. »Vielleicht zehn Sekunden.«
»Und was konntest du in diesen zehn Sekunden beobachten?«
Angestrengt dachte ich nach. Da waren diese ganzen Dunstschwaden gewesen, außerdem hatte ich mir den Kopf gestoßen. »Es sah aus, als ob … als würde sein Gesicht verfaulen. Und seine Augen waren ganz weiß, als hätten sie jede Farbe verloren. Tote Augen.«
»Ganz genau.«
Mir war schleierhaft, was er damit meinte. Tote Augen.
Das Feuer prasselte und sorgte für durchdringende Wärme. Es war schon zu warm. Der Wächter hob mein Kinn an und drehte die Schnittwunde ins Licht. »Nashira wird sie sehen«, sagte ich. »Und dann weiß sie es.«
»Das lässt sich verhindern.«
»Und wie?«
Keine Antwort. Bei jeder Frage nach dem wie oder dem warum schien er das Interesse an unserem
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