The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
vor.
» SCHWEIGT .«
Sofort war alles still.
Aus den Haaren des Mädchens sickerte Blut. Ihre Augen waren offen, ihr Ausdruck unwiderruflich eingebrannt: Entsetzen und Verzweiflung.
Der Mörder war ein Mensch in Rot. Er steckte seinen Revolver weg und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Zwei seiner Kameraden, beide weiblich, packten den Leichnam an den Armen und zerrten ihn nach draußen. »Eine Gelbjacke ist immer dabei«, sagte eine von ihnen so laut, dass alle es hören konnten.
Auf dem Marmorboden blieb ein Fleck zurück. Nashira musterte uns ausdruckslos.
»Wenn es unter euch noch mehr gibt, die fliehen möchten, wäre nun der richtige Zeitpunkt dafür. Seid versichert, dass wir über ausreichend Grabstellen verfügen.«
Niemand rührte sich.
In der folgenden Stille wagte ich einen Blick zu den Säulen. Einer der Rephaim sah mich an.
Er musste mich schon eine ganze Weile beobachtet haben. Sein Blick war so durchdringend, als hätte er darauf gewartet, dass ich ihn erwiderte, dass ich nur den Hauch von Widerspruchsgeist zeigen würde. Die gelben Augen mit den schweren Lidern hoben sich deutlich von seiner Haut ab, die ungefähr die Farbe von dunklem Honig hatte. Er war der größte der fünf Männer, mit dichtem, braunem Haar und in besticktem Schwarz gekleidet. Ihn umgab eine seltsame, sanfte Aura, die von den anderen hier im Raum deutlich überschattet wurde. Er war eindeutig das schönste und unheimlichste Wesen, das ich je gesehen hatte.
Ein heftiger Krampf schoss durch meinen Körper, und ich blickte hastig zu Boden. Würden sie mich jetzt erschießen, weil ich ihn angesehen hatte?
Nashira war immer noch mit ihrer Ansprache beschäftigt und wanderte durch die Reihen. »Im Laufe der Jahre haben die Seher einige große Stärken entwickelt. Ihr wisst, wie man überlebt. Allein die Tatsache, dass ihr jetzt hier steht und so lange der Gefangenschaft entgehen konntet, zeugt von eurer Anpassungsfähigkeit. Eure Gaben haben sich im Kampf gegen die Emim als unschätzbar wertvoll erwiesen. Aus diesem Grund sammeln wir in den zehn Jahren immer so viele von euch ein wie möglich und halten euch im Tower fest, bis eure Überführung von Scion hierher stattfinden kann. Dieses Ereignis, das einmal pro Dekade stattfindet, bezeichnen wir als Knochenernte. In diesem Jahr findet die Knochenernte zum zwanzigsten Mal statt.
In Kürze werdet ihr Identifikationsnummern bekommen. Die Seher unter euch werden nun einem Rephaim zugeteilt, der als euer Hüter fungiert.« Dabei deutete sie auf ihre Gefährten. »Euren Hüter habt ihr in allen Belangen als euren Meister anzusehen. Er oder sie wird eure Fähigkeiten prüfen und euren Wert einschätzen. Wer nicht ausreichend Mut beweist, bekommt die gelbe Tunika, das Zeichen der Feiglinge. Die Amaurotiker unter euch – also die wenigen, die keine Ahnung haben, wovon ich hier spreche«, fügte sie hinzu, »werden als Dienstboten in unsere Häuser gebracht.«
Seb blieb die Luft weg.
»Falls ihr euren ersten Test nicht besteht oder zweimal eine gelbe Tunika angelegt bekommt, werdet ihr dem Oberaufseher unterstellt, der dann Akrobaten aus euch macht. Die Akrobaten dienen unserer Unterhaltung und der Unterhaltung unserer Untergebenen.«
Was für eine Wahlmöglichkeit: Zirkusclown oder Einberufung. Meine Lippen begannen zu zittern, und ich ballte die freie Hand zur Faust. Ich hatte mir die verschiedensten Gründe ausgemalt, warum Seher verschleppt wurden, aber ganz bestimmt nicht das.
Menschenhandel. Nein, Seher handel. Scion hatte uns in die Sklaverei verkauft.
Mehrere Gefangene weinten inzwischen, andere lauschten voller Entsetzen. Nashira schien es nicht zu bemerken. Sie hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als das Mädchen gestorben war. Wobei mir auffiel, dass sie noch kein einziges Mal geblinzelt hatte.
»Rephaim kennen keine Nachsicht. Wer sich an unser System anpasst, wird belohnt. Wer es nicht tut, wird bestraft. Niemand von uns will, dass das passiert, doch falls ihr uns nicht den nötigen Respekt entgegenbringt, werdet ihr leiden. So sieht euer Leben nun aus.«
Seb fiel in Ohnmacht. Julian und ich klemmten ihn zwischen uns ein, doch er hing dort wie ein nasser Sack.
Die Rephaim verließen ihre Säulen. Ich zog den Kopf ein.
»Diese Rephaim haben angeboten, als Hüter zu fungieren«, informierte Nashira uns. »Sie werden nun entscheiden, wen von euch sie annehmen möchten.« Sieben der neun wanderten langsam durch die Reihen. Der letzte – es war
Weitere Kostenlose Bücher