The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Grammophon dudelte immer noch traurig vor sich hin. Ich erkannte die Melodie von Saint-Saëns ’ »Danse Macabre« sofort, was mich augenblicklich alarmierte: Das hörte sich Jax immer an, wenn er besonders schlecht drauf war, oft bei einem Glas Jahrgangswein. Mir hatte das immer einen Schauer über den Rücken gejagt. Ich schaltete den Apparat aus, zog die Vorhänge zurück und sah auf den östlichen Hof hinunter. Neben einem großen Holzportal stand ein Rephait Wache.
Auf dem Bett war eine frische Uniform bereitgelegt worden. Dazu fand ich auf dem Kopfkissen eine Notiz in kräftigen, geschwungenen Buchstaben.
Warte auf die Glocke.
Ich versuchte, mich an die Ansprache zu erinnern. Von einer Glocke hatte niemand etwas gesagt. Wütend zerknüllte ich den Zettel und warf ihn in den Kamin, wo bereits andere Papierschnipsel darauf warteten, verbrannt zu werden.
Ein paar Minuten lang stöberte ich im Zimmer herum und spähte in jeden Winkel. Hier gab es keine Gitter vor den Fenstern, aber öffnen ließen sie sich auch nicht. An den Wänden fand ich weder verborgene Ritzen noch Geheimmechanismen. Dafür aber zwei Türen: Eine davon war hinter einem dicken roten Vorhang verborgen – und verschlossen. Die andere führte zu einem großen Badezimmer. Da ich keinen Lichtschalter ertasten konnte, nahm ich eine der Öllampen mit hinein. Das Bad war mit demselben schwarzen Marmor gefliest wie der Boden in der Bibliothek, dazu hingen hier transparente Gardinen. Der Großteil der einen Wand wurde von einem reich verzierten Spiegel eingenommen. Ihn sah ich mir zuerst an, da ich wissen wollte, ob diese völlige Verkehrung meines Lebens sich in meinem Gesicht abzeichnete.
Was nicht der Fall war. Abgesehen von der aufgeplatzten Lippe sah ich noch genauso aus wie vor meiner Gefangennahme. Tief in Gedanken versunken blieb ich in der Dunkelheit sitzen.
Die Rephaim hatten ihren Deal im Jahr 1859 ausgehandelt, vor genau zweihundert Jahren. Wenn ich mich richtig an den Geschichtsunterricht erinnerte, war damals Lord Palmerston im Amt gewesen. Es war lange vor dem Ende der Monarchie im Jahr 1910 , als eine neue Englische Republik gegründet wurde und allem Widernatürlichem der Krieg erklärt wurde. Diese Republik hat das Land durch fast drei Dekaden der Indoktrinierung und Propaganda geführt, bevor es 1929 in Scion umbenannt wurde. In diesem Jahr war der erste Großinquisitor gewählt worden, und London wurde zur Hauptstadt Scions. All das legte den Schluss nahe, dass die Ankunft der Rephaim überhaupt erst zu Scion geführt hatte. Dass dieser ganze Mist von wegen Widernatürlichkeit nur dazu diente, diese Kreaturen, die von nirgendwoher gekommen waren, füttern zu können.
Ich holte tief Luft. Hinter der ganzen Sache musste noch mehr stecken, da war ich mir sicher. Und ich würde es herausfinden. Irgendwann würde ich das alles durchschauen. Zuerst einmal musste ich aber hier raus. Und bis ich mir überlegt hatte, wie das zu bewerkstelligen war, würde ich hier nach Antworten suchen. Einfach abhauen konnte ich nicht mehr, jetzt, wo ich wusste, wo die ganzen Seher hingebracht wurden. Ich konnte ja nicht einfach vergessen, was ich hier gehört und gesehen hatte.
Ich beschloss, zunächst einmal nach Seb zu suchen. Durch seine Amaurose war er unwissend und verängstigt, aber er war ja auch noch ein Kind. Er hatte das alles nicht verdient. Sobald ich wusste, wo er sich aufhielt, würde ich nach Julian und den anderen Gefangenen der XX . Knochenernte suchen. Ich wollte mehr über diese Emim herausfinden, und bis mein Meister zurückkehrte, waren sie meine einzige Informationsquelle.
Im Turm draußen ertönte eine Glocke, dann antwortete in einiger Entfernung ein zweiter, lauterer Schlag. Warte auf die Glocke . Offenbar gab es hier eine Ausgangssperre.
Ich stellte die Lampe auf dem Badewannenrand ab. Während ich mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, ging ich meine Möglichkeiten durch. Es würde wohl am besten sein, das Spiel der Rephaim vorerst mitzuspielen. Falls ich lange genug überlebte, konnte ich versuchen, Jax zu kontaktieren. Er würde mich holen kommen. Jax ließ niemals einen Seher im Stich. Zumindest keinen, der für ihn arbeitete. Dafür hatte ich mehr als einmal miterlebt, wie er Straßenkünstler verrecken ließ.
Im Zimmer wurde es immer dunkler. Ich öffnete die mittlere Schreibtischschublade und fand darin drei Tablettenschachteln. Eigentlich wollte ich sie nicht einnehmen, hatte aber so eine Ahnung, dass er sie
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