The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
schöne Strecke war. Ich hielt seinem Blick stand.
» XX -59–40.« Seine Stimme war tief und weich. »Ich erhebe Anspruch auf dich.«
Dieser Mann würde also mein Meister sein. Obwohl ich es nicht durfte, sah ich ihm direkt in die Augen. Ich wollte das Gesicht meines Feindes kennen.
Da nun alle Seher ausgewählt worden waren, wandte sich Nashira an die sechs Amaurotiker. »Ihr werdet hier warten. Man wird jemanden schicken, der euch abholt. Alle anderen folgen den jeweiligen Hütern zu deren Unterkünften. Viel Glück, und denkt daran: Welche Entscheidungen ihr hier trefft, ist allein euch überlassen. Ich kann nur hoffen, dass es die richtigen sein werden.«
Damit drehte sie sich um und ging davon. Zwei Rotjacken folgten ihr. Ich blieb neben meinem neuen Hüter stehen, wie betäubt.
Arcturus ging Richtung Tür. Mit einer kurzen Handbewegung signalisierte er mir, dass ich ihm folgen sollte. Als ich nicht sofort reagierte, blieb er stehen und wartete.
Alle starrten mich an. Meine Gedanken überschlugen sich. Vor meinen Augen flackerte es erst rot, dann weiß. Schnell folgte ich ihm nach draußen.
Die ersten Sonnenstrahlen tauchten über den Turmspitzen auf. Nach und nach kamen die Seher nach draußen, immer drei oder vier pro Hüter. Ich war die Einzige, die ihren ganz für sich allein hatte.
Arcturus stellte sich neben mich. Viel zu nah. Steif richtete ich mich auf.
»Du solltest wissen, dass wir hier tagsüber schlafen.«
Ich schwieg.
»Außerdem solltest du wissen, dass ich es nicht gewöhnt bin, Mitbewohner aufzunehmen.« Netter Ausdruck für Gefangene . »Falls du die Prüfungen bestehst, wirst du dauerhaft bei mir wohnen. Falls nicht, werde ich gezwungen sein, dich hinauszuwerfen. Und das Leben auf der Straße ist hier nicht gerade angenehm.«
Ich sagte immer noch nichts. Als ob ich nicht wüsste, wie »unangenehm« das Leben auf der Straße war. Viel schlimmer als in London konnte es hier auch nicht sein.
»Du bist nicht stumm«, sagte er. »Sprich.«
»Ich wusste nicht, dass es mir erlaubt ist, ohne ausdrückliche Genehmigung zu sprechen.«
»Ich werde dir dieses Privileg gewähren.«
»Es gibt nichts zu sagen.«
Arcturus musterte mich aufmerksam. In seinen Augen flackerte Hitze auf.
»Unsere Unterkunft befindet sich in der Residenz Magdalen.« Er wandte der Morgendämmerung den Rücken zu. »Ich nehme an, du bist stark genug, um zu laufen, Mädchen?«
»Ich kann laufen«, bestätigte ich.
»Gut.«
*
Also liefen wir. Zunächst die Straße hinauf, wo gerade die unheimliche Vorstellung ihr Ende gefunden hatte. Neben der Bühne sah ich die Verrenkungskünstlerin, die ihre Stoffbahnen in eine Tasche packte. Kurz sah sie mich an, bevor ihr Blick wieder abschweifte. Sie hatte die zarte Aura einer Kartenlegerin. Und die Blutergüsse einer Gefangenen.
Die Residenz Magdalen entpuppte sich als eindrucksvolles Gebäude. Es entstammte einer anderen Zeit, einer anderen Welt, mit seiner Kapelle, seinen Glockentürmen und den hohen Glasfenstern, hinter denen Fackeln loderten. Als wir uns näherten und durch eine kleine Tür traten, ertönten fünf feine Glockenschläge. Ein Junge in roter Tunika verbeugte sich, als wir durch einen der Kreuzgänge gingen. Ich folgte Arcturus durch das Halbdunkel. Nachdem er eine steinerne Wendeltreppe hinaufgestiegen war, blieb er vor einer schweren Tür stehen, die er mit einem kleinen Messingschlüssel aufschloss. »Hier hinein«, wies er mich an. »Dies wird dein neues Zuhause sein – Founder’s Tower.«
Ich warf einen ersten Blick auf mein Gefängnis.
Hinter der Tür tat sich ein großer, rechteckiger Raum auf. Die Möbel konnte man durchaus als opulent bezeichnen. Weiße Wände ohne jeden Schnickschnack. Nur an einer von ihnen hing ein Wappen, bestehend aus drei Blumen, unter denen ein schwarz-weißes Muster abgebildet war – vielleicht ein angeschrägtes Schachbrett. Neben den Fenstern, von denen aus man in verschiedene Innenhöfe blickte, fielen schwere, rote Vorhänge herab. Vor einem wundervollen, offenen Kamin standen zwei Sessel, in einer Ecke ein rotes Sofa, das wohl auch als Bett genutzt werden konnte und auf dem sich ein Haufen Seidenkissen türmte. Daneben an der Wand entdeckte ich eine große Standuhr. Das Grammophon auf dem dunklen Holzschreibtisch spielte »Gloomy Sunday « . Hinzu kam ein ausladendes Himmelbett, neben dem ein elegantes Nachttischchen prangte. Unter meinen Füßen spürte ich den dichten, reich verzierten Teppich.
Arcturus
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