The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
keinerlei Elektrizität zu geben. Auf der linken Seite tauchte eine steinerne Brücke auf, an deren Seiten Gaslaternen brannten. Das war dann wohl die Brücke, die ich nicht überqueren durfte. Eine Reihe rot gekleideter Wachen blockierten diese Verbindung zwischen Stadt und Außenwelt. Als ich nicht weiterging, richteten alle zehn ihre Pistolen auf mich. Scion-Waffen, Militärausführung. Zehnfach ins Visier genommen, machte ich mich auf die Suche nach der beschriebenen Siedlung.
Die Straße führte an der Grundstücksgrenze von Magdalen entlang, wobei die Gebäude durch eine hohe Mauer geschützt wurden. Ich kam an drei schweren Holztoren vorbei, die alle von je einem Menschen in roter Tunika bewacht wurden. Oben auf der Mauer ragten eiserne Spitzen auf. Ich hielt meinen Kopf gesenkt und folgte der Wegbeschreibung von 33. Die nächste Querstraße war genauso verlassen, aber hier gab es keine Gaslaternen, die für Beleuchtung sorgten. Als ich wieder aus der Dunkelheit auftauchte, fand ich mich in einer Art Stadtzentrum wieder. Meine Hände waren inzwischen schon rissig von der Kälte. Links von mir ragten zwei hohe Gebäude auf, eines davon war mit Säulen und Schmuckgiebeln verziert, genau wie das große Museum in Parzelle I. Ich ging daran vorbei und bog in die Broad Street ein. Auf jeder Stufe und jedem Sims standen brennende Teelichter, und die unverkennbaren Geräusche menschlichen Lebens drangen durch die Nacht.
In der Mitte der Straße waren windschiefe Stände und Fressbuden errichtet worden, alle ausgestattet mit schmutzigen Laternen. Im Halbdunkel wirkten die Konstruktionen fast skelettartig. Rechts und links davon standen reihenweise Hütten, Katen und Zelte, zusammengeschustert aus rostigem Metall, Sperrholz und Plastik – eine Barackenstadt mitten im Zentrum einer City.
Und dann war da noch die Sirene: ein veraltetes, mechanisches Modell mit einem einzelnen, großen Horn. Nicht zu vergleichen mit den elektrischen Mehrfachgeräten auf NVD -Außenposten, die wie Bienenstöcke aussahen und bei nationalen Notständen zum Einsatz kamen. Hoffentlich würde ich nie hören, was für ein Geräusch diese Kurbeln erzeugten. Von einer fleischfressenden Tötungsmaschine verfolgt zu werden, war nun wirklich das Letzte, was ich gebrauchen konnte.
Der Geruch von bratendem Fleisch lockte mich zu der Barackenstadt hinüber. Mein Magen schmerzte schon vor Hunger. Geführt von meiner Nase betrat ich einen dunklen Tunnel. Die einzelnen Buden schienen durch verschiedene Sperrholzröhren miteinander verbunden zu sein, die mehrfach mit Altmetall und Stofffetzen geflickt worden waren. Es gab nur wenige Fenster, stattdessen hingen Kerzen und Petroleumlampen herum. Ich war die Einzige hier, die eine weiße Tunika trug. Alle anderen waren in verdreckte Klamotten gehüllt. Die Farben unterstrichen nur noch ihre fahle Gesichtsfarbe und die stumpfen, blutunterlaufenen Augen. Niemand hier wirkte sonderlich gesund. Das mussten die Akrobaten sein: Menschen, die bei den Tests versagt hatten und dazu verurteilt worden waren, für den Rest ihres Lebens – und wahrscheinlich auch noch danach – die Rephaim zu unterhalten. Die meisten von ihnen waren Wahrsager oder Auguren, sie gehörten also den am weitesten verbreiteten Sehertypen an. Manche warfen mir einen flüchtigen Blick zu, wandten sich dann aber schnell ab. Fast so, als wollten sie mich nicht zu lange ansehen.
Der Geruch drang aus einem großen Raum, in dessen rostige Metalldecke ein Loch geschnitten worden war, um Rauch und Dampf abziehen zu lassen. Ich drückte mich in eine dunkle Ecke und versuchte, möglichst unauffällig zu bleiben. Das Fleisch wurde in hauchdünnen Scheiben serviert, die in der Mitte noch zartrosa waren. Die Akrobaten reichten Platten mit Fleisch und Gemüse herum und schöpften eine Art Creme aus silbernen Schüsseln. Manche kämpften regelrecht um das Essen und stopften es sich hastig in den Mund, um sich anschließend den warmen Saft von den Fingern zu lecken. Noch bevor ich fragen konnte, drückte mir einer der Seher eine Platte in die Hand. Er war stark abgemagert und seine Kleidung bestand nur aus Lumpen. Die dicken Brillengläser auf seiner Nase waren völlig zerkratzt.
»Ist Mayfield noch an der Macht?«
Fragend zog ich eine Augenbraue hoch. »Mayfield?«
»Ja, Abel Mayfield.« Er betonte jede Silbe einzeln. »Ist er noch im Amt? Ist er noch Großinquisitor?«
»Mayfield ist schon vor Jahren gestorben.«
»Und wer ist es jetzt?«
»Frank
Weitere Kostenlose Bücher