The Cocka Hola Company: Roman
zeugt. Er lässt ihn um 45° geneigt in seiner Handfläche ruhen.
Berlitz’ Frau, zuvor lange Geschäftsführerin einer renommierten Catering-Firma, hat irgendwann »einfach mit allem gebrochen und aufgehört« und sich dem Textildesign zugewandt, das hat sie immer schon so fasziniert . Ihr Musikgeschmack ist nicht ganz so avanciert wie der ihres Gatten. Immer wieder hat er sie dabei ertappt, wie sie zwar keinen Schrott, aber musiktheoretisch gesehen doch vollkommen uninteressante Musik hörte. Und immer wieder hat er aufrichtig zerknirscht versucht, ihren Musikgeschmack zu verbessern, indem er ihr seine Favoriten nahelegte, Donnahue und Cage und Stockhausen und Füller und Hindemith und La-Monte Young und Hedgecoe und Haegue Osaka, aber ohne Erfolg. Das verstärkt noch sein Gefühl, groß und unverstanden und allein auf der Welt zu sein, wenn er sich nachmittags zwischen 18.00 und 18.30 Uhr dem hingibt, was er als eine minimalistische Umarmung bezeichnet. Samstagabends zwischen 21.00 und 22.00 Uhr winkt dann die Lieblingszigarre (6 x 52 Torpedo von THOMAS HINDS NICARAGUAN COLLECTION; bitter, fast beißender Vorgeschmack, der zu einem tief erdigen Aroma mit Obertönen von Schokolade reift. Schwere, komplexe Struktur im Abgang. Bietet alles, was Berlitz von einer Zigarre erwartet). Der blaue Rauch komplettiert den Rotwein/Musik-Genuss. Er bezeichnet sich selber als einen nicht ganz unbegabten Pianisten. Seine Haut ist gut, trotz seiner 56 Jahre, und wenn man nahe genug an ihn herangeht, nimmt man den leichten Duft einer Lotion wahr, den Frau Berlitz Lexow insgeheim eher unlecker findet. Sie scheut sich nicht, mit ziemlich groben Worten über seine Genitalien zu sprechen, wenn die beiden sich ausgelassen der Ekstase nähern. Was sie nicht weiß: Herr Berlitz hält in seinem Arbeitszimmer, zwischen den Ordnern mit dem kinderpsychiatrischen Material, ein ganzes Arsenal Lesben-Pornos aus amerikanischer Produktion versteckt. Allwöchentlich liegt er entspannt auf dem Ledersofa vor dem Videoplayer, angetan mit der lingerie intime seiner Frau, und masturbiert zu diesen Filmen, stets nach einer reinigenden Dusche. Herr und Frau Berlitz haben zwei erwachsene Kinder, einen Sohn, Medizinstudent, und eine Tochter, praktizierende Schauspielerin, die zurzeit eine der beiden Hauptrollen in DIE KONGRESSFRAUEN spielt, im Kleinen Haus des Nationaltheaters. Frau Berlitz hat das Stück viermal gesehen, jedes Mal mit einem dicken Kloß im Hals; Herr Berlitz hält seinen Stolz in Zaum; er hat es zweimal gesehen. Ein Höhepunkt im Kulturleben des Ehepaares Berlitz war das Premierendinner im Hause des Regisseurs. Endlich konnte Herr Berlitz seine musiktheoretischen Kenntnisse anbringen; er kämpfte sich an den Platz neben dem Autor durch und vergaß ganz zu essen vor lauter Begeisterung, dass er endlich einmal »einen kulturell Ebenbürtigen als Tischnachbarn« bekommen hatte, wie er es hernach bezeichnete. Als sie nach Hause kamen, war er derart entflammt, dass er zum dritten Male in ihrer Ehe versuchte, seine Gattin anal zu penetrieren (wiederum ohne Erfolg).
In Zimmer 217 sitzt Berlitz, die Hände vor einem dünnlippigen Mund mit getrimmtem Bart gefaltet, häufig baumelt die Lesebrille zwischen seinen Fingern. Er mustert den Klienten, der den Raum betritt. Nimmt er die Brille ab, nachdem der Klient hereingekommen ist, dann reibt er sich die Augen, hört zu oder tut so, als ob, und denkt darüber nach, mit welcher kinderpsychiatrischen Strategie er die Sache angehen will. Sämtliche Antworten, Angebote und Behandlungsvorschläge, die er vorbringt, haben einen gemeinsamen Hintergrund, nämlich seinen abgrundtiefen Hass gegen Vandalismus, vor allem gegen Graffiti. Es drängt sich der Verdacht auf, dass sowohl seine Berufswahl als auch das Engagement in der Kommunalpolitik seinem Drang entspringen, potentielle Tagger entweder im Embryonalstadium zu unterdrücken oder ihnen behördlich zu Leibe zu rücken. Seine Diplomarbeit in Psychiatrie trug den Titel »Chronischer Kritzeldrang als soziale Dysfunktion: Tagging als Gewaltphänomen«. Und in der Kommunalpolitik geht er über Leichen, um den Taggern das Handwerk zu legen. Die Kampagne unter dem Slogan ZUM TEUFEL MIT DEM GESCHMIERE, die er vor einem Jahr initiiert und deren Durchführung er geleitet hat, war die teuerste, die die Kommune sich je geleistet hat; die Kosten übertrafen das Budget für die Reinigung der öffentlichen Transportmittel ums Dreifache. Anfangs war der Stadtrat
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