The Curse - Im Schatten der Schwestern (German Edition)
eine Gänsehaut, als ich ihn heute Morgen ansah. Sein Lächeln erreichte mich nicht, denn ich sah nur das Bild seiner Augen vor mir. Augen, in denen der Lebensfunke erloschen war.
Ich konnte mir nicht vorstellen, was geschehen sollte, damit ich ihn angreifen und töten würde.
Bis auf unsere erste Begegnung war Ross immer nett zu mir gewesen. Ich mochte ihn. Er tat mir sogar etwas leid. Es war nicht richtig, wie er von den anderen behandelt wurde. Also – warum sollte ich so etwas Schreckliches tun? Ich könnte niemals jemanden töten, davon war ich überzeugt. Aber die Vision ...
Vollkommen in meine Gedanken versunken, verrichtete ich alle mir übertragenen Aufgaben, und erst, als wir schon eine ganze Weile unterwegs waren, fiel mir erleichtert ein, dass ich keine Waffe besaß. Es war, wie Payton gesagt hatte: In nächster Zeit würde ich niemanden töten.
Zufrieden wandte ich den Kopf zum Kutschbock, und, als Ross mich über die Schulter anlächelte, lächelte ich zurück.
Kapitel 21
Die Burgtore waren weit geöffnet. Etliche Menschen, die auf den Straßen unterwegs waren, grüßten uns, als wir auf dem schmalen Weg auf Burg Burragh zuritten. Die Sonne hatte es den ganzen Tag noch nicht geschafft, den Dunst zu vertreiben, und so wuchs mit jedem Meter, den wir zurücklegten, das steinerne Bollwerk düster aus dem Nebel empor. Der Karren ratterte unter dem Falltor hindurch, dessen angespitztes Gitter bedrohlich über unseren Köpfen hing. Die Hufe der Pferde klapperten auf dem festgestampften Lehm, und einige Hühner stoben auf, als die Ochsen drohten, einfach über sie hinwegzutrampeln.
Ross lenkte den Karren direkt bis vor den Wohnturm, der, im Gegensatz zu den nur mit schmalen Schießscharten durchbrochenen Außenmauern, einige schmucke Bleiglasfenster vorzuweisen hatte. Zweireihig führten hölzerne Wehrgänge um die Burg herum, sodass das Bauwerk jederzeit in alle Richtungen verteidigt werden konnte.
Links von mir sah ich durch einen spitzen Torbogen einen weiteren Hof, in dem gerade ein Pferd neu beschlagen wurde. Ein junger Bursche hielt den Pferdefuß fest, während ein dicker, ächzender Schmied das Eisen anpasste.
Obwohl ich den Ort kannte, kam mir alles fremd vor. Der Burghof erschien mir größer als an dem Tag, an dem mich das Taxi hier abgesetzt hatte. Das rege Treiben nahm dem grauen Stein seine Trostlosigkeit und lenkte von den Ecken ab, die mir im Jahr 2010 ungemütlich und leicht verkommen erschienen waren.
Dennoch ähnelte es einer Heimkehr, vermutlich, weil wir endlich diese nasse und anstrengende Reise beendet hatten. Und vielleicht lag es auch an dem Schotten, der gerade die Stufen herunterkam.
Den ganzen Tag über hatte ich seine Gesellschaft vermisst. Da Payton und Blair nicht zum Tross zurückgekommen waren, war Sean davon ausgegangen, dass keine Gefahr seitens der Engländer bestand. So konnten auch wir den direkten Weg nehmen und die Burg früher als erwartet erreichen.
Als Payton auf mich zukam, fühlte ich mich wie ein Groupie auf einem Rockkonzert, das keine Sekunden den schmachtenden Blick von seinem Idol lassen kann. Er hatte anscheinend ein ausgiebiges Bad genossen, denn sein Haar war nass und seine Haut noch leicht gerötet von der Rasur.
Im Herbeieilen rief er einen Stallknecht dazu, dem er das Halfter in die Hände drückte und befahl, zusammen mit Ross die Ochsen abzuspannen und zu versorgen. Dann kam er um den Karren herum und hob erst mich herunter, ehe er seinem Vater seine Hilfe anbot. Dieser war jedoch nicht gewillt, vor seinen Leuten Schwäche zu zeigen, und so stieg er allein ab und trat erhobenen Hauptes und mit zusammengebissenen Zähnen in den Wohnturm.
„Du scheinst bei Vater wahre Wunder vollbracht zu haben. Er ist so mürrisch wie eh und je“, staunte Payton und zeigte mir den Weg. Er führte mich in die entgegengesetzte Richtung über den Hof, einmal halb um den Wohnturm herum.
„Ja, es geht ihm heute schon viel besser. Ich habe seine Wunde neu verbunden. Die Wundränder sind kaum noch gerötet und beginnen, sich zu schließen“, berichtete ich ihm. Er führte mich durch mehrere Steinbögen, einige Stufen hinunter. Der Geruch nach Unrat und Abwasser verstärkte sich immer mehr.
Außer uns war in diesem Bereich der Burg niemand mehr anzutreffen. Die Außenmauer lief hier sehr nah am Wohnbereich entlang und sperrte beinahe den Himmel und das Tageslicht aus.
„Wohin gehen wir?“, fragte ich. Meine Stimme wurde von den Wänden zurückgeworfen
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