The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
Ein freundlicher Duft nach Lavendelseife und Baumwolle hing in der Luft. Eine Reihe kleiner Bettchen säumte die Wände. Es waren mehr als ein Dutzend, doch nur eine Handvoll von ihnen war belegt. Die Babys darin schliefen alle. Wie sie das wohl geschafft haben? , fragte sie sich. Ob sie die Babys hier an einen Zeitplan gewöhnen konnten? Draußen strömte der Regen an den beiden großen Sprossenfenstern herab, die in das kalte, graue Licht hinausblickten. Blitze flackerten vor den Scheiben, dicht gefolgt von einem gedämpften Donnerschlag, doch das Wetter unterstrich nur, wie sicher und warm es sich im Inneren anfühlte.
Gaia wandte sich der hintersten Ecke des Raums zu. Eine ältere Frau, ganz in Weiß gekleidet, lag schlaff in ihrem Schaukelstuhl. Ihr Kinn war auf die Brust gesunken, ihre Handgelenke an eine Armlehne gefesselt. Neben ihr stand ein Tisch, auf dem sich Windeln und Decken stapelten. Ein Korb war halb gefüllt mit Babykleidern. Gaia wagte nicht, sich die Zeit zu nehmen, Maya auszuziehen und sauber zu machen, wickelte sie aber fest in zwei frische Decken und griff sich rasch ein paar Sachen, warf sie in den Wäschekorb, nahm ihn bei den Griffen und verließ so leise wie möglich den Raum.
Rasch huschte sie auf Zehenspitzen die Treppe hinab.
»Leon?«, flüsterte sie.
Im Büro stand ein Schreibtisch voller Papiere, umgeben von Aktenschränken und Regalen. Einige leere Bettchen standen an der Wand bereit, als ob man selbst hier vielleicht ein Baby würde sicher ablegen müssen. Der Regen war ein gedämpftes Rauschen, und Leon saß am Schreibtisch im grauen Licht des Nachmittags, seine Finger klapperten über die Tastatur, und der Schein des Computerbildschirms warf ein blasses blaues Licht auf seine Wangen und seine Handrücken.
»Hast du etwas gefunden?«, fragte sie.
»Noch nicht.«
Gaia wusste, dass sie Milchpulver suchen sollte, aber Maya war wieder eingeschlafen, und sie konnte sich einen kurzen Blick durch den Raum nicht verkneifen. Über einem kleinen Schrank waren Zettel an eine Pinnwand geheftet, und in der rechten Ecke entdeckte sie ein vertrautes Heft, das wie eine zu dick geratene Einladung aussah. Sie sah es sich näher an.
Gaia schlug die erste Seite auf und sah Spalten voller Namen. Ich habe so etwas schon einmal gesehen , dachte sie und versuchte sich zu erinnern, zu welcher Gelegenheit. Die Liste war klein gedruckt und ging über mehrere Seiten. Sie rechnete schnell nach und kam zu dem Ergebnis, dass es über hundert Namen sein mussten.
»Leon«, sagte sie und nahm das Heft von der Pinnwand. »Was ist das?«
Er tippte noch ein paar Buchstaben und hielt dann inne, seine Finger über der Tastatur. Dann sah er auf und blinzelte erst sie, dann das Heft in ihrer Hand an.
»Es ist eine Rückführungsbenachrichtigung«, sagte er. »Die Enklave gibt jedes Jahr eine für die Dreizehnjährigen heraus. Es ist nur eine Formalität, um den Schein zu wahren.«
»Aber es ist eine komplette Liste aller Babys eines bestimmten Jahrgangs, oder nicht?« Ihr ging ein Licht auf. »So eine war doch auch im Nähkästchen meines Vaters, als ihr damals meine Eltern verhaftet habt.«
Er streckte die Hand nach dem Heft aus, und sie reichte es ihm. »Das stimmt«, sagte er nach kurzem Nachdenken. »Es ist eine Liste. Aber es stehen keine Geburtstage darin.«
»Aus welchem Jahr war die Benachrichtigung, die mein Vater hatte?«
»Aus einem der Jahre, in denen deine Brüder geboren wurden. Der jüngere Bruder, soweit ich mich erinnere.«
»Also war es nicht nur ein Nadelkissen«, sagte sie. »Mein Vater besaß eine Liste, in der der neue Name meines Bruders verzeichnet war!«
»Vielleicht hat er gehofft, irgendwann herauszufinden, welcher Name der richtige war«, sagte Leon, und dann wandte er alarmiert den Kopf. Auch Gaia hielt inne und lauschte. Ein schläfriger, aber deutlich vernehmlicher Babyschrei kam von oben, einmal nur, dann herrschte wieder Stille. Leon schaute Gaia fragend an.
»Oh nein«, hauchte Gaia. Es war nur eine Sache von Sekunden, bis das Baby lauter und beharrlicher weinen würde, und dann würden auch die anderen Babys erwachen. »Ich muss Milchpulver finden«, sagte sie.
»Ich bin gleich so weit.«
Gaia rannte bereits zurück zur Küche, als ein weiterer, lauterer Schrei von oben zu hören war. Sie sah, dass Rosa näher an die graue, steinerne Feuerstelle gerutscht war. Sie hatte ihre Beine angewinkelt und versuchte, sich auf die Seite zu rollen und wieder auf die Füße zu
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