The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
und lief zurück zum Empfang. Dort riss sie die unterste Schublade des größten Aktenschranks auf. Tatsächlich befand sich darin ein Stapel dünner Bücher. Hastig schlug Gaia die Buchdeckel auf. Sie sah, dass jedes Buch fünf Jahre umfasste, und ein weiterer rascher Blick zeigte ihr, dass in säuberlicher, kleiner Schrift Namen und Geburtsdaten der Babys aufgeführt waren. Sie lud sich den gesamten Stapel auf die Arme.
Als sie zurück in die Küche kam, hatte Rosa Tränen in den Augen. Leon aber hatte sich keinen Millimeter bewegt.
»Es steht alles hier drin«, sagte Gaia. »Leon. Ich habe alles. Lass sie.«
26
Weiße Stiefel
Seine kalten, stählernen Augen verrieten nicht, was in ihm vorging, aber er nahm das Messer von Rosas Hals und richtete sich zu voller Größe auf. Einen kurzen Moment schien es, als wolle Rosa in Tränen ausbrechen. Im Bettchen auf dem Tresen verklang das Schreien des Babys zu einem einsamen Schluckauf, während die anderen Babys im Obergeschoss immer noch weinten.
»Du bist ein Monster«, sagte Rosa und verschluckte sich fast an ihren Worten. »Ein missratenes Balg. Genau, wie sie immer gesagt haben.«
Er warf das Messer zu Boden. Es landete direkt hinter Rosas gefesselten Händen, sodass sie es erreichen und sich selbst befreien konnte.
»Los«, sagte er zu Gaia, nahm die Griffe des Korbs, warf sich den anderen roten Umhang über die Schulter und öffnete den Hinterausgang. Einen Moment zögerte sie neben ihm auf der Schwelle, sie schauderte am ganzen Körper und blickte in sein Gesicht auf, das kaum wiederzuerkennen war. Wie vollständig Leon sich gewandelt hatte, wie skrupellos er vorgegangen war während dieser Momente, als er Rosa mit dem Messer bedroht hatte. Wie viel davon war wirklich er gewesen, und wie viel nur seine Rolle als Gaias Werkzeug? Sie musste akzeptieren, dass auch ihr ein Teil der Verantwortung zukam, und das gefiel ihr nicht.
»Bist du so weit?«, fragte er, und erleichtert stellte sie fest, dass seine Stimme ihren erbarmungslosen Beiklang verloren hatte.
Sie nickte. Er nahm die Bücher und verstaute sie im Korb. Mit einem kleinen Schwung zog er sich die Kapuze seines Umhangs übers Gesicht, und das kontrastierende Rot machte seine Wangen noch etwas blasser.
»Du wirst nie als Mädchen durchgehen«, sagte sie.
Er schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Hier entlang«, sagte er und führte sie um das Gebäude.
Der Regen ließ nach, und dank des trockenen, roten Umhangs fühlte sie nicht mehr jeden einzelnen Tropfen auf ihren Kopf und ihre Schultern niedergehen. Sie verbarg Maya unter dem Stoff und drückte sie eng an ihre Seite.
»Wohin gehen wir?«, fragte sie.
»Zu Mace Jackson. Hast du eine bessere Idee?«
Hatte sie nicht. Aber als sie die Abzweigung zur Bäckerei erreichten, stand eine Gruppe Soldaten an der Ecke der Gasse, und Gaia blieb erschrocken stehen.
»Hey!«, rief ein Soldat.
»Rasch! Hier entlang«, Leon zog sie zurück. Sie hasteten eine Gasse hinunter, dann stieß er sie durch ein enges Tor in einen Garten. Sie flohen vorbei an durchnässtem Gemüse in einen anderen kleinen Hof und aus einem weiteren Tor hinaus. Eine Treppe wand sich an der Seite eines Gebäudes empor, und Leon nahm ihre Hand und führte sie nach oben auf ein von nackten Wäscheleinen überspanntes Flachdach. Sie überquer ten es, fanden eine Zisterne, so voll mit Regenwasser, dass sie überlief, und dahinter führte eine schlichte Bohlenbrücke zusammen mit einer Wasserleitung hinüber auf ein anderes Dach.
»Schaffst du das?«, fragte er.
Verglichen mit ihrer Flucht über das Dach des Wintergartens war dies gar nichts. Gaia streckte ihre Hand aus, und in Sekundenschnelle waren sie auf dem nächsten Dach.
Gaia erhaschte einen Blick auf den Obelisken und die Türme der Bastion, dann aber nahmen Leon und sie eine andere Treppe nach unten und waren wieder an der Straße. Sie hielten inne und schauten sich nach Soldaten um, überquerten die Straße und liefen in eine Gasse. Vor einem vertrauten schmiedeeisernen Tor hielt Leon an.
Er streckte seinen Arm durch das Tor, und in diesem Moment erkannte Gaia den von einer Mauer umgebenen Garten wieder, wo Leon und sie schon einmal etwas Zeit verbracht hatten. »Das geht nicht«, sagte sie. »Es ist eine Sackgasse. Eine Todesfalle.«
»Wir haben keine andere Wahl. Wir müssen uns irgendwo verstecken, bis wir einen Plan haben.«
Er öffnete das Tor, und sie hasteten hinein. Das schwere Tor schloss sich hinter ihnen mit einem
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