The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
»Was glaubst du, wirst du erreichen? Innerhalb der Mauer wird man dich binnen weniger Minuten verhaften. Das kannst du auch anders haben, und gratis obendrein. Geh einfach hoch zum Tor und sag ihnen, dass du die Liste deiner Mutter illegal versteckt hältst.«
Gaia fühlte, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. Sie wusste, sie war so bleich wie das Mehl auf dem Tisch, und schluckte schwer.
Derek lachte wieder und zeigte mit dem Finger auf sie. »Ich hatte also recht. In deinem Gesicht kann man lesen wie in einem Buch, mein Kind.«
»Wer weiß es sonst noch?«, flüsterte sie. Ihre Wangen brannten.
»Kein Grund zur Sorge. Eine Handvoll von uns hat vermutet, dass sie dir oder der alten Meg eine Liste anvertraut hat, obwohl ich mir bis jetzt noch nicht sicher war. Anderen Hebammen hat man dieselbe Frage gestellt«, sagte Derek. »Wir haben uns schon gefragt, ob du etwas unternehmen würdest.«
»Wer sind diese Leute?«, fragte Gaia. Warum hatte niemand von ihnen sie angesprochen, nachdem ihre Eltern verhaftet worden waren?
Dereks Lippen schlossen sich zu einer festen Linie, und schon fragte sie sich, ob er bloß mit ein paar Leuten zu tun hatte, die zu viel redeten; aber ebenso gut war es doch möglich, dass einige wirklich das Recht der Enklave infrage stellten, die Regeln vorzugeben, nach denen die Menschen außerhalb der Mauer zu leben hatten. Vielleicht hatten ihre Eltern an einer solchen Unterhaltung teilgenommen, und das hatte für eine Verhaftung gereicht. Sie wünschte, sie wüsste es.
»Die Quote wird nächsten Monat auf fünf erhöht«, sagte Gaia.
»Tatsächlich?«, fragte Derek nachdenklich. Er knetete ein weiteres Brot. Seine Finger wanderten geschickt über den Laib, dann zog er ein neues Backblech heran, und mit einem kleinen metallischen Knall landete es vor ihm auf dem Tisch.
»Ist jemand da?«, kam eine Frauenstimme aus dem Verkaufsraum.
»Komme!«, rief Derek, warf Gaia einen raschen Blick zu, und sie glitt lautlos in eine Ecke, wo sie hinter einem schwarzen Regal voller Dosen und Schachteln vor Blicken geschützt war. Er wischte seine Hände an der Schürze ab und schlüpfte durch den Perlenvorhang nach vorne.
Gaia konnte die Stimme der Kundin und Dereks freundliche Antworten hören. Sie war sich nicht sicher, weshalb sie Derek vertraute, aber sie tat es. Immerhin schien er besser informiert zu sein als Theo Rupp und seine Familie, selbst wenn es schlechte Neuigkeiten waren, die er gebracht hatte. Sie glaubte mittlerweile, dass es Dinge gab, von denen ihre Mutter ihr nie erzählt hatte, entweder weil sie Gaia nicht vertraute, oder weil sie ihre Tochter schützen wollte. Jetzt aber hatte Gaia von ihrer Unwissenheit endgültig genug.
Sie hörte eine Verabschiedung, schlurfende Schritte, dann kam Derek wieder durch den Perlenvorhang. Gaia trat aus ihrem Versteck in der Ecke.
»Du bist ein ganz schöner Sturkopf, nicht wahr?«, fragte Derek.
Sie trat an den Tisch. Sie hatte sich entschieden. »Heute Nacht«, sagte sie. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Einen langen Moment starrte Derek sie nur an und runzelte die Stirn. Sie aber wuchs unter seinem stechenden Blick. Sie würde es mit ihm oder ohne ihn versuchen, allerdings hätte sie ihn lieber an ihrer Seite. Endlich nickte er. Er widmete sich wieder seinem Brotteig und markierte jeden fertiggestellten Laib mit einem Messer.
»Um Mitternacht«, sagte er, »zieh etwas Rotes an.«
Gaia schnappte nach Luft. Rot war kostspielig, auffällig und tabu für die Menschen außerhalb der Mauer. »Willst du, dass ich auffalle wie ein Feuerwerkskörper?«, fragte sie.
Er gluckste, sah aber nicht hoch. »Du weißt nicht gerade viel, hm? Rot. Und bring die Karten mit. Das Wasser kannst du hinter dem Haus deiner Eltern stehen lassen. Ich hole es mir später.«
Sie nickte. »Ich stelle es auf die hintere Veranda.«
Aus dem Verkaufsraum drangen die erwartungsvollen Schritte eines eintretenden Kunden. Derek wischte seine kräftigen Hände abermals an seiner Schürze ab, griff in ein hohes Regal, holte einen braunen Brotlaib heraus und warf ihn ihr zu. Sie fing ihn mit beiden Händen. »Du hast dir gerade ein Schätzchen auf der anderen Seite eingehandelt, kleine Gaia«, grinste er. »Jetzt ab mit dir.«
Sie trat durch den Hinterausgang ins warme Sonnenlicht. Sie wusste, das war nur seine Art, ihr zu sagen, dass sie eine Vereinbarung hatten, aber sein Schätzchen ging ihr auf die Nerven. Dass sie noch nie einen Freund gehabt hatte, war auch so
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