The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
Haar tragen würde, lang genug, es sich ein paarmal um den Kopf zu binden, zu verknoten, und die Enden über den Rücken fallen zu lassen, doch sie zog es nicht an, sondern versuchte stattdessen, ein Muster in den farbigen Fäden zu erkennen. Doch obwohl viele der Formen wie Zahlen und Ziffern aussahen, konnte Gaia sie nicht entschlüsseln. Sie legte die Nachricht ihrer Mutter neben das Band, aber es bestand keine Ähnlichkeit zwischen beiden.
Von der Straße hörte sie das Lachen eines Kindes und sah auf. Ein Ball wurde mit einem tock von einem Schläger getroffen. Eins der Kinder rief etwas mit fröhlicher, hoher Stimme, und diese Melodie rief eine Erinnerung in ihr wach.
»Ah!« Gaia atmete tief ein.
Buchstaben. Das Alphabet. Das Alphabetlied. Ihr Vater spielte gerne Banjo und sang dazu, und als Gaia noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte es ihm besonderen Spaß gemacht, ihr das Alphabetlied rückwärts beizubringen, angefangen mit Z, Y, X. Er hatte diese Geheimsprache auch in kleinen Botschaften an sie benutzt. Rasch schrieb sie sich den Code dafür auf:
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z Z Y X W V U T S R Q P O N M L K J I H G F E D C B A
Sie besah sich abermals die Nachricht ihrer Mutter und begann sie zu entziffern, indem sie jeden Buchstaben mit dem ihm gegenüberliegenden Buchstaben vertauschte, sodass aus einem W ein D wurde und so fort.
Sie sank in sich zusammen. Die Botschaft war in der Handschrift ihrer Mutter, aber im Geheimcode ihres Vaters verfasst. Hatten die beiden sie gemeinsam geschrieben, oder erinnerte sich ihre Mutter einfach noch an den Trick?
Die Botschaft enthielt dasselbe, was ihr schon die alte Meg gesagt hatte: Sie sollte zu ihrer Großmutter, Danni Orion, gehen. Aber Gaias Großmutter war seit über zehn Jahren tot. Gaia erinnerte sich kaum noch an sie, und ihre Eltern hatten nur selten von ihr erzählt. Es war ihr so vorgekommen, als hinge der Tod ihrer Großmutter mit etwas Tragischem oder Beschämendem zusammen, und jetzt, wo Gaia darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie nicht einmal wusste, wie ihre Großmutter eigentlich gestorben war. Auch an ein Begräbnis erinnerte sie sich nicht.
War es möglich, dass ihre Großmutter immer noch am Leben war? Gaia versuchte abzuschätzen, wie alt sie dann sein müsste, und kam auf Mitte sechzig. Zugegeben, das wäre alt, aber es war auch nicht unvorstellbar, dass jemand so lange lebte. Vielleicht aber wollte ihr ihre Mutter damit auch einfach nur sagen, sie solle in den Toten Wald gehen. Gaia runzelte die Stirn, betastete das braune Pergament und drehte es hin und her, bis es warm in ihrer Hand lag. Dann beugte sie sich vor und warf es ins Feuer, wo es einen Moment aufloderte und dann zu Asche zerfiel.
Wenn sie ihrer Mutter gehorchte, müsste sie auch das Band vernichten. Angestrengt studierte sie die Seidenfäden, in der Hoffnung, sie würden sich zu einer klaren Botschaft zusammenfügen, doch das Muster blieb unergründlich.
Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie untersuchte die gesamte Länge von etwa drei Fuß und fand eine Naht, wo das Band einmal verlängert worden war. Die Fäden auf diesem neuen Stück waren heller. Eine ungewöhnlich sorgfältige Arbeit für Mom , dachte Gaia. Was immer das Band zu bedeuten hatte, Gaia brachte es nicht übers Herz, es zu zerstören. Sie hoffte, ihre Mutter würde ihr verzeihen, wickelte das Band glatt um ihren Daumen und rollte es wieder zu einer engen, weichen Schleife zusammen, die leicht in eine Hand passte. Seufzend schob sie es zurück in den kleinen Beutel und band ihn sich abermals ums Bein. Dann stand sie auf und stieß den Holzlöffel zurück in den Topf mit roter Farbe. Selbst das Holz des Löffels war mittlerweile eingefärbt, und der braune Rock hatte ein sattes, dunkles Rot angenommen. Das weiße Hemd aber blieb hartnäckig rosa.
»Das reicht«, murmelte Gaia. Sie fischte den Rock heraus und warf ihn in eine Wanne neben der Tür. Sobald er abgekühlt war, wrang sie ihn aus und hängte ihn auf die Wäscheleine hinter dem Haus, so tief, dass man ihn von der Straße aus nicht sehen konnte. Sie gab die letzten Reste der roten Farbe ihres Vaters in den Topf und sah befriedigt zu, wie sie dunkle, blutrote Wirbel bildete, die das Hemd gründlich tränkten. Derek will, dass ich Rot trage, also trage ich Rot , dachte sie grimmig. Das wenigstens war eine Anweisung, der sie Folge leisten konnte.
6
Der Obelisk
Rock und Hemd waren noch klamm, als Gaia
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