The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
weiterer Grashüpfer landete auf ihrer Hand, und sie strich ihn ab und rannte ihr hinterher. Wo der Weg große Felsen umlief, lag der Pfad kühl unter ihren bloßen Füßen, aber der größte Teil der Wegstrecke lag im hellen Sonnenschein, und da war es, als ob alles kribbelte – der feine Kies zwischen ihren Zehen, die hingesprenkelten Grashüpfer am Saum ihres Rocks, das Kitzeln der Hitze hinter ihren Ohren.
Sie holte ihre Mutter ein, wo der Trockensee sich zu einer kargen Bucht großer, runder Steine absenkte. In diesem natürlichen Amphitheater hatten Gaia und Emily oft Rapunzel gespielt und sich als böse Fee und Prinzessin abgewechselt. In letzter Zeit aber hatte Sasha Gaia nicht mehr mit eingeladen, wenn sie sich mit Emily zum Spielen traf. Im Schatten jedes der vertrauten Steine lauerte nun die Einsamkeit.
»Da bist du ja endlich, du Träumerin«, sagte ihre Mutter. »Schau her, damit du weißt, wo es wächst. Siehst du diese breiten, weichen Blätter, die beinahe pelzig sind?«
Gaia konnte keinen großen Unterschied zwischen dieser und den anderen Pflanzen um sich herum entdecken. Sie steckte ihre Hände in die Taschen ihres Kleids und verdrehte den Stoff, sodass er sich um ihre Beine wickelte. Sie fragte sich, ob Emily heute wieder zu Sasha gehen würde.
»Gaia, pass auf. Das ist wichtig«, ermahnte ihre Mutter sie. Gaia wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte. Sie wusste nicht, warum ihre Mutter laut wurde. Aber sie wusste, dass Emily hier sein sollte. Gaia ließ den Kopf hängen, und heiße Nebel stiegen ihr in die Augen.
»Hey«, ihre Mutter streckte eine Hand nach ihr aus. Gaia konnte sich nicht bewegen.
»Es sind diese Mädchen, nicht wahr?«, fragte ihre Mutter.
»Ich vermisse Emily«, flüsterte Gaia.
»Setz dich her«, sagte ihre Mutter sanft. »Hier neben mich.«
Gaia vergewisserte sich, dass keine Grashüpfer an der Stelle herumsprangen, und setzte sich dann hin. Ihren Rock hielt sie eng um die Beine. Sie wischte sich die Augen.
»Mit Freunden ist es so eine Sache«, sagte ihre Mutter. »Bei Sasha bin ich mir nicht sicher, aber Emily wird zu dir zurückfinden.«
»Woher weißt du das?«
»Das weiß ich einfach. Es hat etwas mit Größe zu tun. Jetzt sieh mir zu.« Ihre Mutter begann von vorn, diesmal geduldiger. Und als ob sie eine völlig neue Pflanze vor sich sehen würde, inspizierte Gaia die blassgrünen Blätter und Stiele. Vorsichtig grub ihre Mutter die Pflanze aus, und Gaia sah das feine Gespinst der Wurzeln.
»Wofür ist die?«, fragte Gaia. Ihr Hals fühlte sich nicht mehr so eng an. Sie schniefte.
»Das ist die Gaia, die ich kenne«, sagte ihre Mutter. »Diese Pflanze hilft, die Blutung zu stoppen. Sie hilft, dass sich der Bauch der Mutter nach der Geburt wieder zusammenzieht.«
Gaia betastete die weichen, pelzigen Blätter.
»Willst du mir helfen, mehr davon zu finden?«, fragte ihre Mutter.
Und Gaia hatte genickt.
Jetzt, Jahre später, nahm Gaia den kleinen Brotlaib, den Derek ihr gegeben hatte, und betrachtete ihn. Sie konnte schwach den Schnitt in der oberen Kruste ausmachen, den sie ihn in die Laibe hatte machen sehen. Derek hatte keine Erklärung dazu abgegeben, aber jetzt verstand sie. Sie blickte hinüber zu den beiden gelben Kerzen auf dem Kamin, die sie weiterhin jeden Abend zur Essenszeit im Gedenken an ihre beiden Brüder entzündete. Sie dachte an den einzelnen Halm Rispengras, den der Weber in alles einflocht, was er machte, und an die frischen Blumensträuße, die der Schmied immer über seinen Amboss hängte. Es schien, als ob jeder, der ein Kind vorgebracht hatte, sich des Babys auf eine bestimmte Art entsann, mit einem Zeichen oder einem täglichen Ritual.
Geisterbrüder hatten ihr ganzes Leben lang neben Gaia gespielt, unsichtbar für alle außer für ihre Eltern. Vielleicht war ihr Verlust genau das, was Gaias Mutter so einfühlsam gemacht hatte. Vielleicht hatte es ihr nichts ausgemacht, verhaftet zu werden, weil sie gehofft hatte, ihre Söhne auf der anderen Seite der Mauer zu sehen.
Nein. Ihre wunderbaren Eltern verdienten es, freigelassen zu werden.
Die Ungeduld trieb Gaia an. Alle Türen waren geöffnet, um auch die schwächste Brise hereinzulassen. Sie warf einen verstohlenen Blick aus der offenen Vordertür, dann schloss sie sie sachte. Sie hob ihren Rock und band das Päckchen ihrer Mutter los. Darin war das sorgfältig mit Seidenfäden bestickte braune Band. Es sah aus wie ein hübsches Schmuckstück, wie ein junges Mädchen es im
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