The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
sich anzog und das Haus ihrer Eltern zum vielleicht letzten Mal verließ. Die Nachtluft drang kalt durch die Nähte, und sie zitterte. Das Rot war unter ihrem schwarzen Umhang verborgen, und sie trug ihre Hebammentasche über der rechten Schulter. Falls jemand sie zufällig zu dieser Zeit noch draußen sehen sollte, würde er annehmen, dass sie auf dem Weg zu einer Schwangeren war.
Eine Grille zirpte. Als Gaia sich Dereks Bäckerei näherte, verbarg sich der Mond hinter einer Wolke, und sie fühlte, wie ihr Herz schneller schlug, und das nicht nur von ihrem raschen Schritt. Aus der Bäckerei drang kein Licht, und sie musste sich an der Tür entlangtasten, bis ihre Finger den Türknauf fanden. Sie hatte ihn gerade entdeckt, als die Tür aufschwang.
»Sachte da draußen«, hörte sie Dereks Stimme in der Dunkelheit. Sie fühlte seine Hand auf ihrem Arm, und leise glitt sie nach drinnen. Kohlen glühten dunkel in einem der Öfen und verbreiteten ein rotes Leuchten im Raum, ohne jedoch die tiefen Schatten aus den Ecken zu vertreiben. In der Stille hörte sie das warme, züngelnde Zischen des Feuers.
»Bist du so weit?«, fragte sie.
»Du bist dir sicher?«, gab er zurück. »Du könntest wieder nach Hause gehen. Ich könnte vergessen, dass wir uns je unterhalten haben.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss meine Eltern sehen.«
Sie hörte ihn tief einatmen. »Also gut. Du trägst Rot?«
»Ja, unter meinem Umhang«, sagte sie.
Er nahm einen Eimer, der mit einem Tuch abgedeckt war. »Wo sind die Tvaltarkarten?«, fragte er.
»Hier.«
Sie sah, wie er sie kurz in den Feuerschein hielt, dann verstaute er sie in einer Schublade.
»Los geht’s«, sagte er und öffnete die Tür.
Die tintige, violette Dunkelheit der Straße hüllte sie ein, und sie nahm den trockenen Geruch von Nachtblüten und Gräsern wahr. Irgendwo in der Nähe musste ein Eukalyptusbaum stehen, der ihr tagsüber nicht aufgefallen war. Jetzt aber konnte sie deutlich den Arzneiduft seiner Rinde riechen.
Leise folgte sie Derek die Straße hinauf, dann eine weitere. Sie stiegen fast eine Stunde lang den Hügel hoch. Ihr war warm, und ihre Kleider waren mittlerweile vollständig getrocknet. Der Mond trat wieder hervor, erdnah und voll beschien er ihren Weg. Die Straßen wurden immer schmaler und unebener, die Häuser kleiner und ärmlicher, bis die jämmerlichen Hütten nur noch hohle Kartons zu sein schienen, die das Echo ihrer Schritte zurückwarfen. Sie war noch nie in dieser Gegend von Wharfton gewesen. Erst glaubte sie, dass sie sich von der Mauer entfernten, dann aber, an einer entlegenen Stelle, an der eine Kalksteinklippe mit den Steinen der Befestigungsanlage verschmolz, führte eine weitere Biegung sie direkt heran.
»Warte«, sagte Derek leise.
Sie hielt an und sah über die Schulter zurück. Weit entfernt unter ihnen entdeckte sie zu ihrer Überraschung den Lichtschein des Tors, wo sie so oft die Babys abgeliefert hatte. Sie konnte sogar als kleine Figuren die Wachleute erkennen. Am östlichen Horizont wich die kurze Sommernacht bereits einem Hauch von Lila. Sie wandte sich wieder der massigen Mauer zu und entdeckte einen Wachturm links über sich. Sie konnte nicht erkennen, ob er besetzt war.
Derek machte sich am Fuß der Mauer zu schaffen. Es gab ein leises, klirrendes Geräusch. Sie huschte näher und stützte sich mit einer Hand auf den kühlen, rauen Stein. Von Nahem, im Schein des geisterhaften Lichts, wirkten die Blöcke aus blassem Granit kantig und flechtenbedeckt, doch insgesamt bildeten sie eine glatte, unüberwindliche Wand, die sich sechs oder sieben Meter hoch erhob. Im Mondlicht sah sie Derek einen großen, flachen Stein entfernen. Überrascht stellte Gaia fest, dass er bereits lose gewesen sein musste.
»Ist das ein Durchgang?«, fragte sie.
»Still«, sagte er. Dann zog er sie näher heran, und sie spähte in eine Öffnung auf Kniehöhe, jenseits derer auf der anderen Seite ein schwacher Lichtschein zu sehen war. Die Öffnung war nicht viel größer als der Platz unter einem Küchenstuhl, aber wenn sie sich zusammenkauerte und kroch, konnte sie es schaffen. Es ist so weit , dachte sie. Ich gehe auf die andere Seite der Mauer. Sie steckte ihren Kopf in die Öffnung, atmete den muffigen Erdgeruch.
»Nimm das hier«, sagte er.
»Was ist das?« Sie drehte den Kopf und sah, wie er ihr ein großes Tuch reichte.
»Teig. Wenn du auf der anderen Seite bist, werde ich die Steine wieder an ihren Platz setzen. Dann nimmst du
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