The Dead Forest Bd. 2 Das Land der verlorenen Träume
Schule gingen die Mädchen zum Bogenschießen oder widmeten sich ihren Hobbys. Gaia aber hatte nichts zu tun und war immer froh, wenn Norris sie in der Küche helfen ließ. Lady Roxanne, die Lehrerin, ließ sie mehrere Regale in der Bibliothek sortieren, die sich am sonnigen Ende des Atriums befand. Wenn die aufbrausende Lady Maudie, die blonde Leiterin des Mutterhauses, Gaia tatenlos herumsitzen sah, wies auch sie ihr Arbeit zu. Gaia erledigte ohne Widerrede alles, was man ihr auftrug, ob es nun darum ging, Erbsen zu pulen, Garn zu spinnen, Tische abzuwischen oder die Fenster im Obergeschoss zu putzen. Nichts davon war wirklich anstrengend, aber die vielen kleinen Pflichten lenkten sie ab und hinderten sie daran, sich ständig Sorgen um Leon zu machen. Nach wie vor glaubte sie fest daran, dass die Matrarch schon irgendwann einsehen würde, dass sie nicht so leicht zu brechen war.
So vergingen mehrere Wochen. Dann eines Morgens sah Gaia beim Erwachen hellen, geisterhaften Nebel durch den Garten wabern. So viel Nebel hatte sie zuletzt in der Enklave gesehen, am Obelisken auf dem Bastionsplatz. Seine kühlen, sich stetig wandelnden Formen zogen sie magisch an. Sie fragte sich, ob auch Leon diesen Nebel sah, noch dichter vielleicht dort unten am Gefängnis. Auch wenn sie um seinetwillen hoffte, dass er Sylum lange den Rücken gekehrt hatte, ersehnte sie doch seine Nähe.
Sie ging in die Küche. Fenster und Tür waren noch geschlossen, und Norris war nirgends zu sehen. Sie nahm ein Streichholz und zündete zwei Öllampen an, dann griff sie nach der Brotschüssel und der Hefe, doch es war so bedrückend still in der Küche, dass selbst das kleinste Löffelklappern einen ohrenbetäubenden Lärm machte, daher schob sie ein Fenster hoch.
Vor ihr richtete eine graue, in Nebel gehüllte Gestalt sich im Garten auf – es war Chardo Will. Gaia machte einen Satz zurück vor Schreck.
Sie konnte keinen Muskel rühren. Sie hatte Angst, ihn auch nur anzusehen, denn sie durfte ja mit niemandem reden. Dann aber bückte er sich wieder, und sie versuchte zu erkennen, was er dort tat. Als sie das leise Schaben eines Spatens in der Erde hörte, begriff sie: Er pflanzte noch ein paar Kräuter für sie ein.
Ganz unverhofft erfüllte tiefe Dankbarkeit ihr Herz, fast wie der Nebel leise in den Garten strömte. Bis zu diesem Moment war ihr gar nicht bewusst gewesen, wie sehr es sie belastet hatte, dass sie sich nicht hatten aussprechen können, nachdem die Matrarch sie der Autopsie wegen zur Rede gestellt hatte. Es gab also wohl nur eine Erklärung für sein Hiersein: Auch wenn er das Missfallen der Matrarch erregt haben mochte, er trug es Gaia nicht nach. Der Morteur betrachtete sie nach wie vor als Freundin.
Da hörte sie ein Geräusch von der anderen Seite des Zauns. Norris kam die Straße hochgehumpelt. Will richtete sich auf und klopfte sich die Hände ab. Sie hörte die Männer kurz ein paar Worte wechseln, dann verschwand Will im Nebel, und Norris folgte dem Weg durch den Garten zum Haus. Sie hielt ihm die Tür auf, er kam hereingepoltert und warf ein Paket auf den Tisch.
»Was hast du mit dem Jungen nur angestellt?«, fragte er misstrauisch.
»Gar nichts. Wir haben nicht einmal geredet. Du weißt doch, dass ich das nicht darf. Was hat er gesagt?«
Er schüttelte den Kopf. »Er wollte wissen, wie’s dir geht.«
Gaia schaute wieder hinaus in den Nebel. Norris brummte etwas und band sich seine Schürze um, entfachte ein Feuer und gab Una einen Schubs mit dem Holzbein.
»Merk dir meine Worte«, murmelte er mit rauer Stimme. »Dank der Matrarch bist du nun geheimnisvolle Fremde und Märtyrerin in einer Person. Welcher Junge könnte dir da widerstehen?«
»Will ist doch kein Junge mehr.«
»Red keinen Quatsch. Er ist ein Junge, der ein Spiel spielt. Das älteste Spiel überhaupt.«
Gaia schob die anderen Fenster hoch. »Hast du irgendwas von meinem Freund Leon gehört, der im Gefängnis sitzt? Vlatir? Irgendetwas?«
»Er hat das Pferd nicht genommen.«
Gaia fuhr herum. »Was noch? Wie geht es ihm?«
»Er macht den Wachen ganz schön Ärger. Letzte Woche haben sie ihn in Einzelhaft gesteckt. Hat mir gestern mein Cousin erzählt.«
Sie wich zurück. »Einzelhaft? Du meinst, in so eine Art Isolierzelle?«
Norris runzelte die Stirn. »Wozu willst du das alles wissen, junge Dame? Ändert das denn irgendwas? Fügst du dich der Matrarch etwa, wenn’s ihm schlecht geht? Hast du ehrlich geglaubt, es ginge ihm nicht schlecht?«
So
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