The Doors
Diesmal ist der Schauplatz das Dinner Key Auditorium in Miami im Jahr 1969. Es handelt sich um die Show, in der Morrison die Zukunft der Band aufs Spiel setzte, als er, aus Selbsthass und aus Hass gegen sein Publikum, nach einem letzten Tabu suchte, das er brechen konnte, nach irgendeiner letzten Demütigung, und er sich schließlich auf der Bühne entblößte, nicht wie ein alter, schmieriger Exhibitionist in einem öffentlichen Park, sondern eher wie ein kleiner, verwirrter Junge. Die Stille, die Oliver Stone einfing, enthält den Lärm, den Dave DiMartino, der 1969 beim Dinner-Key-Konzert als Teenager im Publikum war, in einem zwölf Jahre später publizierten Zeitungsartikel am besten beschrieben hat: »Einzelne Formulierungen sind mir im Gedächtnis haften geblieben. Morrison, wie er › THERE ARE NO RULES !‹ schrie und die Leute auf den ›billigen Plätzen‹ aufforderte, die Bühne zu stürmen; wie die Band nach einer längeren Unterbrechung in ›Touch Me‹ einstieg und Morrison vielleicht drei Zeilen gesungen hatte, bevor er › STOP !‹ brüllte und uns erzählte, dass der Song beschissen sei und dass Robbie Krieger ihn geschrieben habe ... Doch ich erinnere mich vor allem an das Gefühl, dass an jenem Abend buchstäblich alles hätte passieren können: dass Morrison sich den Hals hätte brechen können, als er gegen Ende der Show ins Publikum hechtete, dass die Leute von den billigen Plätzen die auf den teureren hätten tottrampeln können – eine Katastrophe, bei der es möglicherweise noch mehr Todesopfer gegeben hätte als einige Jahre später bei diesem Who-Konzert in Cincinnati. Die Show hätte bis in alle Ewigkeit weitergehen können. Der Rest der Band hätte einfach die Bühne verlassen können. Wäre Morrison aus den Latschen gekippt, hätten wir vermutlich ebenfalls wie verrückt applaudiert – zum Teil als Zuschauer in dem römischen Kolosseum, in dem Morrison sich offenbar wähnte, zum Teil als Voyeure, aufgeregt und entzückt angesichts dieses Typen, der mehr von sich entblößte als das, was er in der Hose hatte. Wir schauten ihm einfach nur zu, jedenfalls die meisten von uns, und dachten, dass dieser Typ genau das machte, was wir auch machen wollten, und dass er das sagte, was wir schon immer hatten sagen wollen.«
Oliver Stone bringt das auf die Leinwand – das ganze Chaos, die Fans, die nackt oder angezogen auf die Bühne springen, eine Bühne, auf der sich noch immer mehr Polizisten zu tummeln scheinen als Fans, die Band, wie sie unbeirrt weiterspielt, als sei irgendwo in der Menge und nicht unmittelbar zu ihren Füßen ein Handgemenge ausgebrochen, und die dann aufhört zu spielen, und Kilmer, wie er völlig die Kontrolle über sich verliert, einen aber noch immer davon überzeugt, dass sein Morrison genau das sagt, was er denkt, und der Lärm und die Angst und die Dunkelheit und die Scheinwerfer, wie sie ein Feuer entfachen, das viel hässlicher ist als alles, was das Feuerwerk am Wassertempel in sich barg –, und mittendrin hört das alles schlagartig auf. Die Show geht weiter, die Band spielt, die Menge wogt schreiend auf und ab, doch es ist kein Ton zu hören. Es ist ein Moment vollständiger Erstarrung: Jim Morrisons erster, öffentlicher Tod. Niemand außer ihm kann das sehen, niemand auf der Bühne oder im Publikum nimmt die totale Stille wahr, die sich auf Val Kilmers rohem, bärtigem Gesicht abzeichnet. Buchstäblich alles hätte passieren können, schrieb DiMartino, also auch dies: eine Beschwörung, ein Erscheinen von nichts, die Show als ein wilder Strudel, der alles in sich aufsaugte, bis nichts mehr übrig war, eine Ekstase bis zur absoluten Leere. Das ist so weit, wie es nur gehen kann, sagt der Film, als Kilmer sich durch diese Utopie hindurchtastet, durch dieses Nirgendwo, in völliger Stille – Kunst, Politik, Leben, Tod, Sehnsucht, Furcht, Begehren, Liebe und Tod. Dieser Moment wirkt nicht wie ein besonderes Ereignis im schillernden und letztlich bedeutungslosen Leben einer bestimmten Person, sondern wie ein historischer Augenblick.
Oliver Stones Film wäre leicht zu zerpflücken gewesen, man hätte ihn mit einer Handbewegung abtun und am darauffolgenden Tag gnadenlos verreißen können, doch beim Verlassen des Kinos hätte man auch ein gewaltiges, laut hämmerndes Echo im Kopf verspüren können, ein Echo, das man nicht zu entschlüsseln vermochte, ein Echo ohne Bedeutung, eine pure Kraft. Das ist eine gute Metapher für eine Inkarnation der 1960er-Jahre,
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