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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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zieht meinen Kopf an seine Brust und schlingt beide Arme um mich, und ich denke nur, warum kann das Leben nicht einfach hier und jetzt zum Stillstand kommen und uns für immer in diesem Augenblick verharren lassen.
    Stattdessen höre ich ein Geräusch an der Tür. Ich schaue auf, Schwester Tabitha bringt Travis das Abendessen. Sie zieht eine Augenbraue hoch bei meinem Anblick, so aufgelöst und rot geweint. Ich stehe auf, gehe vom Bett weg und wische mir das Gesicht mit dem Ärmel ab.
    Travis ist wieder eingeschlafen, sein Körper liegt schlaff da, die Arme an den Seiten. Habe ich mir die ganze Sache etwa nur eingebildet?
    Schwester Tabitha sagt nichts, als ich den Raum verlasse und durch das Labyrinth des Münsters zurück in den Raum laufe, in dem ich meinen Schutz und Trost finde. Ein paar Stunden später steht sie vor meiner Tür und teilt mir mit, dass mich meine neuen Studien von nun an den ganzen Tag beanspruchen werden, deshalb wird mir keine Zeit mehr bleiben, für Travis zu beten.
    Die Nacht verbringe ich bei geöffnetem Fenster am Schreibtisch, eiskalte Luft weht über meinen tauben Körper. Ich schaue zum Wald hinüber, zu den Zäunen, und denke an meine Mutter und meinen Vater. Ist ihr Leben jetzt leichter? Gibt es Angst bei den Ungeweihten? Gibt es Verlust und Liebe und Schmerz und Sehnsucht? Wäre ein Leben ohne so viel Leiden nicht leichter?

7
    S chwester Tabitha hat recht, meine neuen Studien lassen mir keine Zeit,Travis während des Tages zu besuchen. Stattdessen muss ich mich um die Arbeiten kümmern, die im Münster anfallen. Am Morgen fege ich den Schnee von den Wegen, wische Staub auf den Kirchenbänken und lege die Gebetbücher bereit. Ich ziehe die heiligen Kerzen für den Altar, wobei ich für jede Schicht Wachs das dafür vorgesehene Gebet spreche. Ich bereite die Mahlzeiten zu und wasche das Geschirr ab. Aber ich darf die Mauern des Münsters nicht verlassen, ich darf nicht zum Brunnen gehen, an den Bach oder in die Felder.
    Und deshalb sehe ich auch niemanden aus dem Dorf, es sei denn, er kommt ins Münster.
    In den folgenden Wochen besuchen uns Cass und Harry regelmäßig, um an Travis’ Bett zu sitzen. Manchmal zusammen, manchmal allein. Es ist schrecklich von mir, aber ich verstecke mich, sobald sich Cass nähert. Ich kann ihren Anblick einfach nicht ertragen, seit ich weiß, dass sie diejenige ist, die Travis gewählt hat, und ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass er in jener
Nacht zwar meinen Namen gesagt, aber vielleicht Cass gemeint hat.
    Als ich es gar nicht mehr aushalte, krieche ich nachts aus meinem Bett, wickele mir meine Steppdecke um die Schultern und schleiche mich aus meinem Zimmer den Flur hinunter bis ins Innerste des Münsters. Im Laufe der Jahre hat das Dorf Flügel an das Gebäude angebaut, Korridore, die sich in seltsamen Windungen vom Altarraum wegbewegen, manche kreuzen sich und manche nicht. Mein kleiner Raum liegt im alten Teil des Gebäudes und besteht hauptsächlich aus Stein, nicht aus Holz. Er ist feucht und finster. Die meisten Schwestern wohnen lieber in den neueren Räumen, die zum Dorf hinausgehen. Sie ziehen es vor, keinen Ausblick auf Friedhof und Wald zu haben.
    Vielleicht hat Schwester Tabitha mir mein Zimmer als Bestrafung zugewiesen, um damit meine Isolation noch zu verstärken. Aber ich habe nicht dagegen protestiert, ich mag die Stille und die Einsamkeit meines leeren Ganges.
    Ich nähere mich dem Altarraum. Plötzlich steigt die Decke in die Dunkelheit auf, der Raum weitet sich und man kann die Sitzreihen erkennen. Ich drücke mich an die Wand, damit die Schwestern, die Nachtwache halten, mich nicht sehen. Und da bleibe ich und beobachte, wie sie voreinander knien, während das Kerzenlicht Schatten auf ihre Gesichter wirft. Sie flüstern wie besessen, und ich glaube, sie beten, bis eine von ihnen leise zischt: »Es ist, wie es immer gewesen ist und immer sein wird – und die Schwestern werden nicht zulassen, dass du etwas
anderes denkst. Solche Dinge darfst du nicht denken und erst recht nicht laut aussprechen.«
    Ohne darüber nachzudenken, schleiche ich in der Dunkelheit näher an sie heran, um mehr zu verstehen. Aber dann rauscht Schwester Tabitha in den Altarraum und ich husche davon. Lautlos schlüpfe ich durch die Tür und einen anderen Gang hinunter, die enge Treppe hoch und noch einen Gang entlang, bis ich meine Hand gegen Travis’ Tür drücken kann. Mein Atem geht stoßweise, der ganze Körper kribbelt, weil ich unbemerkt von

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