The Forest - Wald der tausend Augen
an die Brust. »Alles Gute«, sage ich, weil ich nicht weiß, wie ich ausdrücken soll, was ich wirklich sagen will. Und dann schlüpfe ich aus dem Fenster und bin gleich von Schnee bedeckt, der löscht, was eben noch in Flammen stand.
Da ich fürchte, von den Leuten im Nebenzimmer entdeckt zu werden, sprinte ich über den Friedhof auf die Zäune zu und in die Schatten nicht weit vom Waldesrand. Beim Laufen verwische ich meine Spuren, damit nicht allzu offensichtlich wird, dass ein Mensch unter Travis’ Zimmerfenster weggelaufen ist, aber bald sind meine Füße eisig kalt. Meine dünnen Hausschuhe schützen nicht vor dem Schnee.
Ich gehe so dicht an den Wald heran, wie ich mich bei
Nacht traue, dann mache ich einen Bogen, damit ich das Münster durch die Vordertür betreten kann. Meine Gedanken wandern zurück zu Travis, zu seinem Bett, wie sich seine Haut angefühlt hat … Ich zittere. Das sind die Erinnerungen, das Verlangen, die eisige Luft. Und so merke ich zunächst gar nicht, dass ich fremden Fußspuren folge. Hier ist nicht nur ein Mensch gegangen, das waren viele.
Ich bleibe stehen. Hinter mir ist nur noch der Wald. Mein Herz hämmert. Sind das die Spuren der Ungeweihten? Wenn der Zaun nun durchbrochen wurde und niemand Alarm geschlagen hat? Panische Angst durchzuckt mich, aber ich rutsche und schlittere durch den Schnee und versuche, die Spuren zu ihrem Ausgangspunkt zurückzuverfolgen.
Beim Zaun hören sie auf. Am Tor zu dem Pfad, der aus unserem Dorf hinaus und durch den Wald der tausend Augen führt. Ich knie mich in den Schnee und schaue durch das Tor. Im Mondschein glitzert ganz deutlich eine Spur von Fußabdrücken bis hierher. Über die niedergetretenen Brombeersträucher verläuft sie den Pfad hinunter, soweit ich schauen kann. Das sind nicht die schlurfenden Spuren der Ungeweihten, sondern die starken, fest umrissenen Spuren der Lebenden, als ob jemand zielstrebig auf unser Dorf zugesteuert wäre.
Das ist ein verbotener Pfad und dieses Verbot gilt für alle: die Dorfbewohner, Schwestern, Wächter. Noch nie habe ich gesehen, dass dieses Tor geöffnet wurde, noch nie habe ich jemanden diesen Pfad benutzen sehen.
Jemand von Außerhalb ist in unser Dorf gekommen.
Das bedeutet, es gibt ein Draußen – etwas hinter dem Wald.
Aufregung,Angst, Neugier und Panik steigen in mir auf und machen mich beinahe betrunken, doch dann schlucke ich und richte meine Gedanken wieder auf den gegenwärtigen Moment. Ich beuge mich über den Schnee und betrachte die Umrisse der Fußspur. Sie ist klein wie meine, aber die Schritte sind ausgreifend, entweder war das ein Junge oder eine Frau. Jemand von Außen ist in unser Dorf gekommen.
Jetzt frischt der Wind auf, verweht den Neuschnee und verdeckt die Fußspuren. Ich hüpfe beinahe, als ich den Spuren zum Dorf folge, bis vor das Münster. In meiner Aufregung will ich schon die Tür aufreißen, denn mein ganzes Wesen platzt vor Energie, doch dann holt mein Verstand meinen Körper ein. Niemand hat die Sirene angestellt, niemand hat die Dorfglocke geläutet. Es mag ja Nacht sein, aber ein Außenseiter ist eine Neuigkeit, für die man das Dorf wecken würde. Und doch haben die Schwestern den Außenseiter geheim gehalten. Sie haben ihn in das Zimmer neben Travis geschleppt und dort eingesperrt. Und ich habe gehört, wie eine der Schwestern gesagt hat, das Dorf würde erst davon erfahren, wenn die Schwestern den Zeitpunkt für richtig halten.
Plötzlich begreife ich, dass ich nichts von dem Außenseiter wissen darf, und ich frage mich, wie weit die Schwestern gehen würden, um dieses Geheimnis zu bewahren.
Mir fällt der Tunnel unter dem Münster ein und die Lichtung im Wald. Welche Geheimnisse mögen sie sonst noch hüten?
Ich tauche in die Schatten ein, die die Mauern des Münsters im Mondlicht werfen. Mit den Händen an seiner imposanten Steinfassade krieche ich durch die Büsche und um die Schneewehen herum, bis ich unter meinem Fenster ankomme. Ich öffne es und schlüpfe ins Zimmer, nass und zitternd, Hände und Füße taub.
Nachdem ich die Glut der Feuerstelle geschürt habe, hänge ich meine Kleider zum Trocknen über den Stuhl. Mit meiner Decke um die Schultern setze ich mich auf den Läufer vors Feuer, mein Körper ist immer noch kalt bis ins Mark.
Draußen nimmt der Wind zu, und ich bin dankbar, dass meine Spuren ausgelöscht werden, doch mir ist auch klar, dass die Spuren des Außenseiters nun ebenfalls verwischt werden.
In unser Dorf ist jemand von
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