The Forest - Wald der tausend Augen
Wochen erst, als Travis’ Schmerz zu viel für mich wurde.« Sie schaut über meine Schulter hinweg, als wäre sie woanders, nicht in diesem Korridor im Inneren des Münsters. »Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht. Er hat meine Hand gehalten. Ich war sicher, dass er um mich anhalten würde.« Sie ruckt schon wieder an ihrem
Zopf. »Ich war mir so sicher, dass er mich liebt.« Ihr schweifender Blick richtet sich auf mich, durchdringend und scharf. »Aber dann hat er um dich angehalten.«
Zu viele Gedanken wirbeln mir durch den Kopf. »Ich dachte,Travis würde um dich werben. Ich dachte, er hätte dich zum Erntefest geladen.« Ich erinnere mich daran, wie oft sie Travis besucht hat, wie oft sie an seinem Bett gekniet und ihn getröstet hat. Ihre Hingabe hatte ich für Liebe und Besitzanspruch gehalten. »Wie hätte Harry denn um dich anhalten können? Du warst doch schon versprochen?«
Sie legt den Kopf schräg, als würde sie mich zum ersten Mal seit einer Ewigkeit sehen. »Schwester Tabitha hat mir eingeräumt, die Verlobung zu lösen«, sagt sie. »Sie waren nicht sicher, ob er die Verletzung überleben würde, und selbst wenn, glaubten sie, wäre er wahrscheinlich ein Krüppel und damit kein geeigneter Ehemann, der mit ganzem Einsatz für eine Ehefrau sorgen kann. Ich habe ihn aus Treue und Freundschaft besucht. Genau wie du.«
Selbstverständlich würde Cass Travis in Zeiten der Not besuchen, Werbung hin oder her, wir alle kennen uns schon unser Leben lang, wir sind zusammen aufgewachsen, sind fast wie eine Familie.
»Und was ist dann passiert?«, frage ich sie.
Ihr Blick wird hart. »Harry hat für dich gesprochen, statt für mich.«
»Aber warum?« Meine Stimme ist flach, verzweifelt.
Ein Muskel spannt sich an ihrem Kiefer. Langsam zuckt sie die Achseln.
»Das muss nicht so sein«, sage ich. So habe ich Cass noch nie gesehen, so ernst, so entschlossen und finster.
»Doch«, sagt sie.
»Aber wenn du Harry liebst und ich …«, ich halte inne, aber wir wissen beide, was ich sagen will.
»Du liebst Travis«, beendet sie den Satz für mich. Ich kann nur stumm und mit hängenden Armen dastehen. Den Kopf lasse ich hängen. Nicht zum ersten Mal heute werden meine Beine schwach und ich fühle mich innerlich ganz leer. Wie kann es sein, dass alles so schnell so schiefgegangen ist?
»Tut mir leid«, flüstere ich schließlich.
»Du hast es nicht mit Absicht gemacht, das weiß ich«, sagt sie und legt mir die Hand auf den Arm. »Ich habe mich ja auch nicht mit Absicht in Harry verliebt.« Ich kann ihr nicht in die Augen schauen, sie darf mein Zögern nicht sehen. Mein Begehren für Travis hat nie aufgehört, auch nicht, als ich ihn mit Cass zusammen gesehen habe, als sie an seinem Bett geweint hat. Die ganze Zeit habe ich gewusst, dass sie einander versprochen waren. Trotzdem habe ich Travis dazu verleiten wollen, sein Wort zu brechen und meine beste Freundin zurückzuweisen, um mit mir zusammen zu sein. Und ich habe fest daran geglaubt, dass er mich genug liebte, um genau das zu tun.
Ich will meine Hand auf ihre legen, aber sie zieht sie weg, ihre kühle Haut entgleitet mir. »Ich versteh einfach nicht, warum wir das nicht ändern können. Wenn die Dinge doch nicht so sind, wie sie sein sollen, wenn es gar nicht das ist, was wir wollen …«
»Harry hat um dich angehalten, Mary«, zischt sie. »Er hat seine Wahl getroffen. Er hat dich mir vorgezogen. Und wenn er will, dass ich Travis heirate, dann werde ich das tun.«
Cass verkündet das mit einer solchen Inbrunst, dass ich Angst bekomme. Sie ist immer so ein unbekümmertes Mädchen gewesen, sie war immer die Glückliche, die ihre Sorgen und Probleme beiseitegeschoben hat.
»Aber wir können das immer noch ändern, Cass.« Ich beuge mich zu ihr rüber. »Ich werde mit Harry reden, ich werde ihm sagen, dass ich nicht mit ihm zusammen sein will …«
Ihre Hand schnellt vor, packt meine Schulter, und sie zieht mich an sich, bis unsere Nasen sich beinahe berühren. Im trüben Licht des Korridors scheint sie nichts als Schatten zu sein, mit wütendem Gesicht und zusammengezogenen Augenbrauen. »Das wirst du bleiben lassen. Du darfst ihm nicht das Herz brechen.«
»Aber die Dinge sind nicht so, wie sie sein sollten. Wenn ich mit Travis zusammen sein will …«
Wieder schneidet sie mir das Wort ab, rüttelt an meinem Arm, stößt mich gegen die Wand. »Wenn du Harry das Herz brichst, dann schwöre ich dir, dass ich Travis niemals gehen lassen
Weitere Kostenlose Bücher