The Forest - Wald der tausend Augen
Schwester Tabitha.
In meinem Kopf geht alles durcheinander.Was ist jetzt die bessere Wahl: ein Leben als Harrys Ehefrau oder ein Leben als Schwester? Keines von beiden bringt mich Travis näher.
»Möchtet ihr beiden einen Augenblick allein miteinander sprechen?«, fragt sie uns.
Ich schaue Harry flüchtig an, mir ist es egal, dass mein Körper Schmerz, Wut und Verzweiflung ausstrahlt. Er sieht mich an, sein Gesicht ist weich, die Hände hat er nicht mehr zu Fäusten geballt. Er scheint einen Schritt näher kommen zu wollen. Ich spüre, wie meine Muskeln hart werden, und schüttele den Kopf.
Erstaunlich, dass ich nicht knurre wie ein verwundetes Tier, das von Hunden in die Enge getrieben worden ist. Er will eine Hand heben, um mich heranzuwinken oder mich abzuwehren, keine Ahnung, ist mir auch egal. Ich merke schon, wie ich mich von ihm zurückziehe, wie ich physisch Abstand zwischen uns schaffe, ohne einen Schritt zu tun.
Sein Blick wird härter, intensiver, und er schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt er. Und dann geht er, und ich werde zurück in mein Zimmer gebracht, wo ich zusammenbreche und schluchze. Ich raufe mir die Haare, ich schlage mir mit den Fäusten auf die Schenkel und werfe mich vor dem verglühenden Feuer auf den Boden.
Es gab einmal eine Zeit, in der das Leben mit Harry genug gewesen wäre. Es gab einmal eine Zeit, in der die Geschichten meiner Mutter nur Fantasien waren und meine Welt sonnig und warm und voller Liebe und Freunde.Aber Aufregung gab es da nicht. So etwas wie ein Leben außerhalb des Dorfes gab es nicht. Früher habe ich vielleicht für Travis geschwärmt, aber das war nichts mehr als ein kindisches Sehnen, das schnell verschwunden wäre, angesichts der Zufriedenheit, einen Heiratsantrag von Harry zu bekommen.
Doch all das hat sich jetzt geändert. Sowohl Mutter als auch Vater sind Ungeweihte, Travis ist zerschmettert, Cass ist nicht da, Jed bin ich so gleichgültig, dass er nicht mal mit mir spricht, wenn er zum Gottesdienst ins Münster kommt.
Und es gibt Leben außerhalb des Waldes.
Ich höre die Ungeweihten stöhnen. Das Geräusch wird über den alten, schmuddeligen Schnee hinweggetragen und dringt durchs Fenster. Wie unkompliziert ihr Leben doch ist, denke ich wieder einmal, wie viel leichter. Warum wehren wir uns bloß so dagegen, warum kämpfen wir schon so lange gegen sie an, statt unser Schicksal einfach anzunehmen.
Die Folgen sind mir mittlerweile gleichgültig, deshalb verlasse ich mein Zimmer, marschiere den Gang hinunter und die Treppe hinauf nach oben, wo die Außenseiterin eingesperrt ist. Ich will gerade jemanden aus dem Weg schubsen, als ich merke, wer es ist: Cassandra.
Sie kommt aus Travis’ altem Zimmer.
»Cass?«, sage ich. »Was machst du hier?« Ich will sie umarmen und sie fügt sich, aber ihre Arme sind schwach und schlaff, als sie mich umfangen. Seit Wochen haben wir uns nicht gesehen, Monate sind vergangen, seit wir das letzte Mal als Freundinnen Zeit miteinander verbracht haben, so wie früher, bevor meine Mutter zur Ungeweihten wurde. Zum ersten Mal merke ich, wie weit wir uns voneinander entfernt haben und wie sehr mir ihre Freundschaft fehlt, wie sehr mir jemand fehlt, dem ich meine Angst, meinen Schmerz und meine Verwirrung anvertrauen kann.
Sie lässt als Erste los und zieht die Tür hinter sich zu, bis sie das Einschnappen des Schlosses hört, damit hat sie die einzige Lichtquelle in dem engen Gang ausgesperrt. »Ich bin wegen Travis hier«, sagt sie.
Mir stockt der Atem, plötzlich werden die Gedanken an die Außenseiterin in den Hintergrund gedrängt. »Ihm geht es gut? Er ist wieder oben?«
Sie nickt und ruckt an ihrem langen blonden Zopf und beißt sich mit den Schneidezähnen auf die Lippe. »Travis gehört jetzt mir, Mary. Genauso wie Harry dir.«
»Ich …«, ich will ihr sagen, dass sie sich irrt, dass Travis mich liebt und immer mir gehören wird. Aber das stimmt natürlich nicht. Travis hat mir nie gehört. Sogar in diesen langen Nächten, in denen wir miteinander gebetet haben, wusste ich, dass Travis einer anderen gehört. Er war immer Cass’. So wie ich jetzt Harrys bin.
Sie lässt ihren Zopf los und legt mir eine Hand auf den Arm. Ich muss mich zwingen, nicht zurückzuzucken. »Du musst ihn loslassen, Mary«, sagt sie. Ihre Finger bohren sich in meine Haut. »Er würde dir überallhin folgen und das kann er nicht. Das kann er einfach nicht.«
»Aber …«
»Weißt du, ich habe mich in Harry verliebt. In den letzten
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