The Forest - Wald der tausend Augen
den Zäunen. Mitten im Winter wird meine Einsamkeit hier bestimmt nicht gestört, niemand aus dem Dorf wagt sich allzu weit vom warmen Ofen weg, nicht mal, um die
Gefallenen zu ehren. Hier liegen meine Vorfahren, alle, bis auf meine Mutter und meinen Vater, an deren Tod kein Grabstein erinnert, weil sie Ungeweihte sind.
Über die Schulter werfe ich einen Blick zurück zum Münster. Werde ich Gabrielle in der heranschleichenden Dunkelheit am Fenster stehen sehen?
Da ist sie, sie steht zwischen den Vorhängen. Ich schaue hoch zu ihr und unsere Blicke treffen sich. Mir stockt der Atem, es ist, als würde man sein Spiegelbild im Wasser sehen. Das gleiche Alter, das gleiche dunkle Haar, die gleichen Fragen in unseren Augen. Sie wirkt größer, drahtiger als ich. Und sie trägt eine Weste, die unnatürlich rot ist, so grell und seltsam, dass es schon fast in den Augen schmerzt. Gabrielle hebt die Hand und legt sie ans Fenster, drückt ihre Handfläche flach aufs Glas. Ich hebe auch die Hand und gehe auf sie zu, aber dann sehe ich, wie sie sich umdreht und über ihre Schulter guckt, und dann fällt der Vorhang zu und sie ist weg.
Ich husche schnell davon, gehe hinter dem steinernen Engel auf einem Grab in Deckung, weil ich Angst habe, dass man mich dabei erwischt, wie ich zum Zimmer der Außenseiterin hinaufschaue, deren Gegenwart doch offensichtlich geheim bleiben soll. Als ich sicher bin, dass die Schatten der Dämmerung meine Bewegungen verhüllen werden, gehe ich zu dem Tor, das den Pfad nach Draußen schützt. Der Schnee ist weich und unberührt. Nichts deutet darauf hin, dass ein paar Nächte zuvor ein Außenseiter durch diesen Zaun gebracht worden ist. Nichts verrät, dass sich ein Außenseiter unter uns befindet.
Ich schlage einen Bogen um die Wohnhäuser, wedele mit den Armen, um mich warm zu halten, um mache mich auf den Weg zum Dorfhügel. Dort klettere ich auf den Wachturm, dessen Bretter eisglatt sind.Auf dem höchsten Punkt unseres Dorfes schaue ich über den Wald hinweg. Ich strenge meine Augen an, weil ich den Waldrand ausmachen will, weil ich die Stelle finden will, an der der Rest der Welt beginnt.
Doch ich sehe nichts als Dunkelheit.
Mein ganzes Leben hat sich um die Welt außerhalb der Zäune und um den Wald gedreht. Immer habe ich mich gefragt, ob es hinter dem Wald noch etwas gibt, ob sonst noch irgendetwas die Rückkehr überlebt hat und ob die Geschichten meiner Mutter wahr sind und es vor der Rückkehr wirklich eine ganze Welt gegeben hat.Wir haben nicht mal gewusst, ob auf der anderen Seite der Bäume auch ein Zaun steht, ob es irgendwo ein Ende gibt. Sind wir vielleicht so etwas wie der Dotter in einem Ei und ist der Wald das Eiweiß und ein weiterer Zaun die Schale? Oder geht der Wald unendlich weiter und wird nur von Ungeweihten gesäumt? Eigentlich habe ich mir meistens vorgestellt, dass es in unserer Welt nichts außer dem Wald geben kann.
Den Wald und die Ungeweihten.
Ich habe mir auch über das Meer Gedanken gemacht – und über das Außerhalb vorher. Aber es ist mir nie in den Sinn gekommen, rauszugehen und es herauszufinden. Und das Dorf zu verlassen und das einzige Leben, das ich je gekannt habe.Wenn wir heranwachsen, erzählt man
uns, dass es hinter den Zäunen nichts gibt, für das es sich zu leben lohnt. Dass die Welt mit der Rückkehr endete und wir die letzte Bastion sind.
Aber natürlich sind wir das nicht. Gabrielle ist der Beweis dafür. Der Boden mag von Schnee bedeckt sein und ich auf einem Turm auf einem Hügel stehen, um den der Wind peitscht, doch mir ist nicht kalt. Ich bin zu aufgeregt zum Frieren. Es gibt einen Beweis für Leben außerhalb unserer Zäune. Und ich muss mich einfach fragen, wie das unser Leben verändern wird. Ich kann gar nichts dagegen machen.
Da draußen ist eine Welt, da, vor uns. Und jetzt sind wir Teil dieser Welt. Das ist erschreckend und wunderbar.
9
I n meinem Zimmer sitze ich vor dem Fenster am Schreibtisch und trommele mit den Fingern. Ich bin ungeduldig und kann nicht aufhören, mit der Fußspitze zu wippen. Ich behalte die Zäune im Blick und halte Ausschau nach meiner Mutter. Das ist das Einzige, was mich von der Außenseiterin – Gabrielle – ablenken kann und davon, mir auszudenken, wie ich zu ihr nach oben gelange.
Seit unserer Konfrontation vor Kurzem weiß ich, dass Schwester Tabitha ein wachsames Auge auf mich hat, und doch kann ich mich nicht ruhig verhalten und meine Neugier unterdrücken. In dem Versuch, der Entdeckung
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