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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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oder sich in der Ecke verstecken soll.
    Ein heftiger Ruck am Handgelenk, und plötzlich liege ich halb auf dem Boden.
    »Mary, steh auf«, brüllt Harry. Er hat mich aus dem Bett gezogen, und ich starre das Band an, das sich straff zwischen uns spannt. Mit seiner freien Hand angelt Harry nach etwas, das auf dem Tisch liegt, trotzdem kann ich nichts anderes tun, als das Band anzustarren. Bilder von der vorherigen Nacht ziehen mir durch den Kopf wie ein Nebelschleier: Harrys Küsse, Schwester Tabitha, die mich ermahnt, eine gute Ehefrau zu sein und dem Dorf Kinder zu bringen, Argos und seine Welpenträume.
    »Mary, du musst mir hier helfen!« Er zerrt an dem Band, das in mein Handgelenk schneidet. Seine Hände zittern. Er tritt an meine Seite, packt mich bei den Schultern und
zieht mich zum Tisch. Schwester Tabitha hat die zeremonielle Klinge dort hingelegt, er nimmt sie und schiebt sie unter unser Band.
    Und dann lässt der Druck auf meinem Handgelenk nach. Sobald er frei ist, fängt Harry an, unser Häuschen zu durchwühlen, Kleider zusammenzuraffen und Essen und alles in eine Tasche zu stopfen.
    Ich lasse das andere Ende des Seils durch meine Finger gleiten.Wo der Knoten um Harrys Handgelenk war, sind die Fasern noch warm.
    Die Zeit scheint langsamer zu vergehen, sich zu dehnen wie ein Wollfaden. Die Sirene übertönt jedes andere Geräusch, ich kann Leute am Fenster neben der Tür vorbeilaufen sehen, die Blicke über ihre Schulter werfen. Nebel wabert um ihre Füße, sodass es aussieht, als würden sie dahingleiten, aber alles ist ziemlich still, ihre Bewegungen verlieren sich in dem einen lang gezogenen Alarmton.
    Die Panik, die ich fühlen sollte, nach allem, was man mir beigebracht hat, bleibt aus. Ohne mich damit aufzuhalten, meinen Körper zu verhüllen, gehe ich zum Fenster und beobachte, wie meine Freunde und Nachbarn zu den Plattformen hetzen. Ein Teil meines Hirns, der Teil, der in meinem Unterbewusstsein begraben ist, drängt mich zu handeln. Drängt mich dazu, mich anzuziehen und zu rennen. Mit den anderen zu rennen, ehe es zu spät ist. Ehe die Plattformen voll und die Leitern hochgezogen sind.
    Hinter mir brüllt Harry Anweisungen, aber seine Worte
gehen unter im Sirenenton und dem ganzen Durcheinander in meinem Kopf. Ob die Zeremonie wohl wegen der Sirene verschoben wird, ob noch Zeit bleibt, dass Travis mich holen kommt, frage ich mich. Ich weiß nicht, ob das jetzt wirklich ein Durchbruch ist oder ob jemand zu nah an die Zäune herangekommen ist wie meine Mutter. Ob jemand was riskiert, den Verstand verloren, sich angesteckt hat?
    Argos kratzt wie besessen auf dem Fußboden und versucht, sich einen Weg nach draußen zu buddeln. Seine Krallen scharren und rutschen sinnlos über das Holz und ich spüre seine immer stärker werdende Panik. Er hebt den Kopf, als wollte er jaulen, bleckt die Zähne und schaut mich bettelnd an, doch etwas zu tun.
    Schließlich raffe ich mich auf, ich will gerade meinen Rock überziehen, als ich es sehe. Ein roter Blitz im Augenwinkel und schon ist sie am Fenster vorbei. Diese Farbe kenne ich. Ich weiß, wie unnatürlich sie ist. Diese Geschwindigkeit kenne ich.
    Die Ungeweihten sind hier, unter uns. Das ist keine Übung.
    Gabrielle ist hier.
    Meine Finger nesteln an den Knöpfen meines Rocks, und während ich mir ein Hemd über den Kopf ziehe, gehe ich zur Tür. Als ich den Riegel berühre, halte ich inne.Was, wenn es zu spät ist? Mein Herz hämmert, während die Unentschlossenheit durch mein Blut strömt.Was, wenn die Plattformen längst voll sind?
    Ich schaue zurück zu Argos, der unsicher ist, ob er mir
folgen soll, ob er mir vertrauen kann, ihn zu beschützen. Harry bekommt nichts davon mit, denn er rennt durchs Haus, reißt sämtliche Schränke auf und sucht nach Waffen.
    Vor dem Fenster laufen zwei Kinder Hand in Hand durch den Nebel. Bruder und Schwester. Ich kenne sie, ich kenne sie, seit der Junge, Jakob, vor acht Jahren geboren wurde. Jakob stolpert und fällt hin und fasst sich an sein nun blutiges Knie. Die Schwester bleibt stehen, sie bemerkt, dass die Hand leer ist, mit der sie eben noch ihren großen Bruder festgehalten hat. Sie schaut zurück, sieht Jakob am Boden, den Arm Hilfe suchend nach ihr ausgestreckt. Sie schüttelt den Kopf, mit den Fingern im Mund und großen Augen. Ihre blonden Locken wippen bei der Bewegung.
    Plötzlich lässt einen uralte Angst ihren Körper erstarren. Ich sehe, wie sich die Nässe vorn auf ihrem Rock ausbreitet und sie

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