The Forest - Wald der tausend Augen
stützen muss, mein ganzer Rücken wogt, als die Spannung sich löst.
Ich halte nach Harry Ausschau. Er steht noch immer am Rand der Plattform und winkt mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Jetzt kann ich den Sinn in seinen vorherigen Verrenkungen erkennen, er wollte mich dazu bringen, hinter mich zu schauen. Wieder fange ich an zu kichern.
Sogar auf die Entfernung wird deutlich, dass er stolz auf sich ist. Stolz darauf, endlich eine Form von Kommunikation hergestellt zu haben, auch wenn die mit allerlei Tücken verbunden ist.
Ich winke zurück und drücke die Nachricht an meine Brust. Was wohl auf dem Zettel des ersten Pfeils stand? Ob die Botschaften mit jedem das Ziel verfehlenden Pfeil kürzer geworden sind? Wie viele der Ungeweihten
dort unten mögen wohl Fluchtpläne mit sich herumtragen?
Nun bin ich dran mit dem Schreiben, also schlüpfe ich ins Haus, klettere die Leiter runter und renne dann über die Treppe nach unten, wo ich Travis finde. Er zählt im Vorratsraum Gläser und macht Notizen in ein Haushaltsbuch.
»Wir haben Kontakt!«, sage ich und wedele mit dem Blatt Papier vor seiner Nase herum.
Er runzelt die Stirn ein wenig, weiß vielleicht nicht, was er davon halten soll. Und weil ich so aufgeregt bin, kann ich mich nicht besonders gut verständlich machen. Aber dann lächelt er über mein Grinsen, nimmt mir den Zettel aus der Hand und liest ihn.
»Der ist von Harry. Er hat ihn an einen Pfeil gebunden und auf unser Haus geschossen. Ein paar Mal ging es daneben«, sage ich. »Genauer gesagt, ziemlich oft. Allem Anschein nach war ich mit dem schlechtesten Schützen des Dorfes verlobt.«
Erst hinterher wird mir klar, was ich gesagt habe: verlobt . Die einzelnen Buchstaben bleiben in der Luft hängen wie Fett im Wasser. Wie ein Versprechen, das auf seine Einlösung wartet. Unsere Blicke treffen sich, und ich denke, ich sehe Kummer in seinen Augen. Mir wird klar, dass es ganz egal ist, in welcher Blase wir hier leben: Harry und ich haben eine gemeinsame Geschichte. Eine Verbindung.
»Travis«, sage ich, doch ich weiß nicht, was ich nun sagen kann, um ihn zu beschwichtigen. Um es wiedergutzumachen.
»Was willst du antworten?«, sagt er, um die Leere zu füllen. Er gibt mir den Zettel und macht sich wieder daran, Gläser zu zählen.
»Weiß ich nicht«, sage ich. Und das stimmt. Ein Teil von mir möchte ihm alles schreiben. Dieser Teil erinnert sich an unsere Freundschaft als Kinder und die Nacht unserer Bindung und wie nah wir uns früher gewesen sind. Erinnert sich, wie nah wir daran waren, Mann und Frau zu werden, ehe es zum Durchbruch kam. Ich bin ganz erstaunt darüber, wie einsam ich mich plötzlich fühle.
Und es ist beängstigend, diesen Gedanken vor Travis zu haben.Vor Travis, der mein Herz zum Klopfen und meine Finger zum Kribbeln bringt, wenn ich nur an ihn denke. Travis, dessen Atemzüge ich auslote, wenn wir schlafen, dessen Herz den Takt meines Lebens angibt.
Ich lasse den Zettel auf den Boden fallen, mit einem Seufzen segelt er über das Holz. Travis dreht sich um, als wollte er ihn aufheben, und ich hindere ihn daran, als er schon beinahe kniet. Ich hocke mich zu ihm auf den Boden, Auge in Auge sitzen wir uns gegenüber. Mit den Fingern ziehe ich die Konturen seines Gesichtes nach und versuche, mich daran zu erinnern, wie es das erste Mal war, als ich mir solche Freiheit mit diesem Jungen herausnehmen konnte.
Sofort weiß ich, dass meine Nähe ihn berührt. Das erkenne ich an seinem Atem, an der Art, wie ihm die Luft in der Kehle steckenbleibt, wie sein Mund sich ein ganz klein wenig öffnet. Ich erkenne es am Flattern seiner
Lider, daran, wie er mich durch einen Schleier des Begehrens ansieht.
Er zieht mein Gesicht zu sich heran, seine Lippen streifen meine und dann legt er meinen Kopf an seine Schulter. Er schlingt die Arme ganz fest um mich, und ich begreife, wie er mich braucht. Ich schmiege mich an seinen Körper und er darf mein Haar um seine Finger wickeln.
Und ich schließe die Augen, denn ein Teil von mir fühlt sich immer noch einsam und verlassen. Ein Teil von mir weiß nicht, auf welche Zukunft wir hoffen und welches Glück wir diesen Tagen abringen können. Welche Zukunft gibt es denn für jeden Einzelnen von uns, wenn wir die letzten Menschen sind? Müssen wir die Bürde weiter tragen und die Welt neu erschaffen?
Verantwortung drückt mich.Verantwortung für Travis, für Argos, für die Versprechen, die ich Harry bereits gegeben habe und die uns immer noch
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