The Forest - Wald der tausend Augen
ich dich holen. Ich wollte meinen gesunden Menschenverstand von meiner Leidenschaft überwältigen lassen.
Aber mit Gabrielle hat sich dann alles geändert. Ich habe gesehen, was mit denen passiert, die vom Weg der Schwestern abweichen. Ich habe gesehen, was mit uns passieren würde – mit dir. Und ich konnte es nicht ertragen.
Ich habe immer nur dich vor mir gesehen in dieser roten Weste, wie du an den Zäunen rüttelst. Das konnte ich nicht zulassen.« Er senkt den Kopf.
Der Schmerz darüber, was hätte sein können, lässt mir die Worte im Hals steckenbleiben. »Wir hätten es schaffen können«, sage ich. »Wir hätten fliehen können.«
Als er mich wieder ansieht, sind seine Augen tränennass. »Nein, hätten wir nicht«, sagt er leise. »Wir hätten niemals entkommen können.« Er legt eine Hand auf sein Bein. »Ich bin zu kaputt. Sie hätten uns gefunden, wir wären nie weggekommen.«
Er kniet sich vor mich und hält meine Hand. »Verstehst du das nicht, Mary. Seit Gabrielle habe ich nichts anderes getan, als für deine Sicherheit zu sorgen, weil ich solche Angst hatte, dich zu verlieren.«
Ich schüttele den Kopf, meine Gedanken geraten in einen Strudel, wirbeln wild herum. »Warum hast du mir das nicht vorher gesagt? Warum sagst du mir diese Dinge jetzt?«
»Weil ich dich zu lange beschützt habe. Gabrielle hat gesagt, das Meer sei gefährlich. Und ich dachte, ich könnte dich davon fernhalten. Aber als ich dich gestern unter den Ungeweihten ertrinken sah, ist mir klar geworden, dass ich nicht mehr weitermachen kann. Ich kann nicht derjenige sein, der diese Entscheidungen für dich
trifft. Das Meer spielt keine Rolle, ist mir gestern bewusst geworden. Denn selbst wenn wir es nie finden, du brauchst mich nicht mehr. Früher habe ich mal gedacht, ich könnte dich beschützen. Könnte für dich sorgen. Aber du bist stark genug. Was du gestern gemacht hast, habe ich noch nie gesehen. Ich habe noch nie jemanden so überleben sehen wie dich. Du hast gegen die Ungeweihten gekämpft und du lebst!«
Er schüttelt den Kopf, seine Augen leuchten und sind ganz groß. »Ich habe gewaltigen Respekt vor dir.«
Als hätte er einen Stöpsel herausgezogen, fließt aller Schmerz und alle Wut ab – und lässt ein Nichts zurück. »Ich werde dich immer brauchen«, flüstere ich. »Die ganze Zeit habe ich auf dich gewartet. Und du bist nie gekommen und hast mich geholt.Warum hast du mich auf dich warten lassen?«
Travis seufzt, drückt die Finger gegen das Fensterbrett. »Ich glaube, ich wusste sogar da schon, dass ich nicht gut genug für dich sein würde, Mary. Es geht nicht mehr um das Meer. Es geht um dich und was du willst und brauchst.Vielleicht wirst du mit mir ein paar Jahre glücklich sein …«
Er hält inne, wieder kann ich Tränen in seinen Augen sehen. »Ich kann nicht dein Traum zweiter Wahl sein.«
Ich möchte schreien, weil er so was sagt, möchte ihn umschubsen und ihn zwingen, diese Worte zurückzunehmen. Doch ich gehe an ihm vorbei ans Fenster. Das Fensterbrett presst sich in meine Hüften, als ich mich hinauslehne. Einen Augenblick lang frage ich mich, ob ich hier
wohl das Salz des Meeres riechen kann. Könnte ich hören, wie die Wellen sich an der Küste brechen, wenn ich die Augen schließe und mich genug konzentriere? Würde ich die Luft schmecken, würde ich das Meer schmecken?
Seit diesem Tag auf dem Hügel, seit er versprochen hat, mich zu holen, sollte das unser gemeinsamer Traum sein. Unser beider Traum. Nie war vorgesehen, eine Wahl zu treffen zwischen dem einen oder dem anderen.
»Mary«, sagt Travis und stellt sich hinter mich. Er legt mir eine Hand auf die Schulter, aber ich schüttele sie ab. Ich will nicht, dass er recht hat. Ich will nicht glauben, was er sagt, dass ich so grausam und eigensüchtig sein könnte. Ich spüre seine Hitze, sie will die Leere in mir füllen, aber ich wickele die Arme ganz fest um mich wie einen Panzer.
Dann gehe ich zur Tür. Als ich über die Schwelle treten will, fragt er: »Hättest du das Meer je für mich aufgegeben?«
Ich zögere, lege eine Hand auf den Türknauf. Früher einmal hatte ich gehofft, dass die Liebe alle anderen Träume im Zaum halten würde – wie bei meiner Mutter. Plötzlich überkommt mich die Einsicht, dass es nicht so ist. Ich gehe durch die Tür und lasse ihn ohne eine Antwort stehen.
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A uf den Plattformen in den Bäumen Einsamkeit zu finden, ist nicht leicht, deshalb laufe ich über die Seilbrücken, bis ich von Travis
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