The Green Mile
hatte, wenigstens das bezweifelte ich nicht – uns irgendwie getäuscht hatte, sodass wir uns einbildeten, etwas gesehen zu haben, was überhaupt nicht geschehen war? Dann war da die Sache mit Hal Moores. An dem Tag, an dem ich ihn in seinem Büro überrascht hatte, war er ein zittriger, weinerlicher alter Mann gewesen. Aber ich bezweifelte, dass das die wahre Seite des Direktors war. Ich dachte, der wahre Gefängnisdirektor Moores war der Mann, der einst einem Knastbruder, der ihn zu erstechen versucht hatte, das Handgelenk gebrochen hatte; der Mann, der zynisch darauf hingewiesen hatte, dass Delacroix’ Eier gebraten wurden, ganz egal, wer die Hinrichtung leitete. Dachte ich tatsächlich, dass Hal Moores demütig zur Seite treten und uns einen verurteilten Kindermörder ins Haus bringen lassen würde, damit der seiner Frau die Hände aufegte?
Meine Zweifel wucherten während der Fahrt in mir wie eine Krankheit. Ich verstand einfach nicht, warum ich so etwas getan oder warum ich die anderen zu dieser verrückten nächtlichen Reise überredet hatte, und ich glaubte nicht, dass wir eine Chance hatten, ungestraft davonzukommen – nicht die Chance eines Hundes im Himmel, wie die Alten immer sagten. Doch ich versuchte auch nicht, die Sache abzublasen, was ich vielleicht noch hätte tun können; die Dinge würden uns erst dann endgültig aus den Händen gleiten, wenn wir bei Moores’ Haus auftauchten. Etwas – ich nehme an, es waren vielleicht nur die Wellen der Verzückung, die von dem Giganten neben mir ausgingen – hielt mich davon ab, auf das Dach des Führerhauses zu hämmern und Harry aufzufordern, zu wenden und zum Gefängnis zurückzufahren, solange wir das noch konnten.
Das war meine Gemütsverfassung, als wir vom Highway auf die Landstraße 5 und von dort auf die Chimney Ridge Road abbogen. Eine Viertelstunde später sah ich den Umriss eines Daches die Sicht auf die Sterne verdecken, da wusste ich, dass wir am Ziel waren.
Harry schaltete vom zweiten Gang in den ersten zurück (ich glaube, er schaltete während der ganzen Fahrt nur ein einziges Mal in den höchsten Gang). Der Wagen ruckte und bebte, als fürchtete auch er sich vor dem, was vor uns lag.
Harry bog auf Moores’ kiesbedeckte Zufahrt und parkte den grummelnden Truck hinter dem schlichten, schwarzen Buick des Direktors. Vor uns, ein wenig zu unserer Rechten, war das schmucke Haus in dem Stil, der Cape Cod genannt wird, soweit ich weiß. Diese Art Haus hätte in unserem Bergland fehl am Platz wirken sollen, aber das tat sie nicht. Der Mond war aufgegangen, und sein Grinsen war an diesem Morgen ein bisschen breiter. In seinem Schein konnte ich den Vorgarten sehen, der sonst so schön gepflegt war, aber jetzt vernachlässigt wirkte. Hauptsächlich war es nur Laub, das nicht fortgeharkt worden war. Unter normalen Umständen wäre das Mellys Aufgabe gewesen, aber Melly war in diesem Herbst nicht in der Lage gewesen, mit einem Rechen zu hantieren, und sie würde das Laub nie wieder fallen sehen. Das war die Wahrheit, und ich war so verrückt gewesen, zu denken, dieser Idiot mit dem leeren Blick könnte es ändern.
Vielleicht war es jedoch noch nicht zu spät, uns selbst zu retten. Ich tat, als wollte ich aufstehen, und die Decke rutschte von meinen Schultern. Ich könnte mich vorneigen, an das Fenster auf der Fahrerseite klopfen und Harry sagen, dass wir höllisch schnell verschwinden sollten, bevor …
John Coffey packte meinen Unterarm mit seiner gewaltigen Hand und zog mich so mühelos hinunter, wie ich es mit einem Kleinkind getan hätte. »Sehen Sie, Boss«, sagte er und zeigte auf etwas. »Jemand ist auf.«
Ich schaute in die Richtung, in die er deutete, und mir rutschte etwas in die Hose, nicht das Herz, aber der Magen. Hinter einem der hinteren Fenster schimmerte Licht. Höchstwahrscheinlich in dem Zimmer, in dem Melinda jetzt ihre Tage und Nächte verbrachte; sie war so wenig in der Lage, Treppen zu steigen, wie sie das Laub zusammenharken konnte, das während des letzten Gewitters von den Bäumen gefallen war.
Sie hatten natürlich den Truck gehört – Harry Terwilligers gottverdammten Farmall, dessen Motor brüllte und durch einen Auspuff furzte, der nicht durch so etwas Frivoles wie einen Auspufftopf gedämpft wurde. Verfucht, das Ehepaar Moores schlief in diesen Nächten vermutlich ohnehin nicht so gut.
Ein Licht weiter vorn im Haus ging an (in der Küche), dann im Wohnzimmer, dann im Flur, dann auf der Veranda. Ich beobachtete
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