The Hood
von seinem alten Viertel ferngehalten, bleibt bei seinen drei Kindern und seiner schwangeren Freundin Nicole, die jetzt ebenfalls zu ihnen kommt. Einen Moment lang ist Svensson abgelenkt durch Kyles Schwester Talitha, eine schlanke und hübsche junge Frau mit vollen Lippen. Sie könnte ein Model sein, denkt er. Vielleicht ist sie ein Model. Er zwingt sich dazu, sich zu konzentrieren. Er hat gehört, dass Merlins schießwütiger Leutnant Trench sich in jüngster Zeit nach Kyles Aufenthaltsort erkundigt hat. Drei Drive-by-Shootings in dieser Woche. Kyle geht ein Risiko ein, indem er sich hierherwagt, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen.
»Wann kommt der kleine Kyle denn?« Dermot deutet mit dem Kopf auf den Bauch.
»Es ist ein Mädchen«, sagt die Mutter. »Kleine Kyles haben wir längst.«
Dermot macht in gespielter Überraschung große Augen über die winzigen Leutchen, die schüchtern hinter den Beinen ihres Vaters hervorlugen. Svensson zwinkert den Kids zu. Kyle wischt eine Wespe von seinem schwarzen Ledermantel. Erst dreiundzwanzig, denkt Svensson, und schon vier Kinder. Leck mich am Arsch. Aber in dieser Gegend hat jeder 23-Jährige bereits eine lange Geschichte. Aus Gewohnheit denkt er über Kyles Profil nach. Es fällt ihm alles wieder ein. Sein Bruder Dexter wurde 2000 mit einer Mac-10-Maschinenpistole erschossen – ein Mord wegen Revierstreitigkeiten im Drogenhandel. Das dürfte den jugendlichen Kyle ziemlich hart getroffen haben. So fängt es immer an.
Dann passiert einige Jahre später, Kyle ist inzwischen neunzehn, etwas sehr Merkwürdiges. Er geht mit seinen Kumpeln zu einer Reggae-Nacht in einem Striptease-Schuppen in Stockport. Sie drängen sich in die Toilette. Kyle, sein neunzehnjähriger Kumpel Wes und zwei weitere. Wes hält in seiner offenen Handfläche eine zehn Zentimeter große Miniatur-Pistole aus Metall. Sieht aus wie ein Feuerzeug. Mit einem Knopf drauf, wie die Verriegelung einer Autotür. Als Nächstes liegt Wes dann mit einem Loch im Kopf auf den Spülkasten zurückgesackt. Er trägt eine kugelsichere Weste.
War das Ding in seiner Hand losgegangen? Diese Schlüsselanhänger sind tödlich. Oder hat jemand anderer auf den Knopf gedrückt? Es bleibt ungeklärt. Ungeklärter Todesfall. Wes’ Mutter Linda sah Svensson gerade in die Augen, umklammerte seinen Arm und sagte, sie wüsste, wer ihren Sohn umgebracht hat. Es war einer seiner Freunde, sagte sie. Sie haben gelogen vor Gericht. Andererseits aber war sie eine trauernde Mutter. Für gewöhnlich legen sie keine eigenen Soldaten um, so was schwächt die Crew.
Svensson schielt zu Kyle. Sein Download ist abgeschlossen. Dermot beendet den Small Talk, klopft ihm auf die Schulter, sie gehen weiter. Svensson verfolgt Kyles Hinterkopf, als die Menge ihn langsam verschluckt. Er ist ein gutes Ziel, denkt er.
Sie schließen neue Freundschaften, plaudern mit Trauergästen, die sie noch nie zuvor getroffen haben, mit Leuten, die normalerweise die Polizei eher ablehnen würden. Der Sarg wird ins Grab abgesenkt. Eine einzelne Frau schluchzt und schleudert eine Faustvoll Erde auf den Deckel. Antoines Freunde trinken auf sein Wohl, spritzen etwas Brandy ins Grab und rammen umgedrehte Flaschen Dragon Stout fest in die Erde neben dem Grab. Es geht darum, Ehre zu erweisen, ein letztes Glas auf den Toten zu trinken. Der Blumengeschmack ist auch nicht gerade umwerfend, denkt Svensson, als er einen Blick auf die großen Lettern an der Seite der Grabstelle wirft, die den Namen des Verstorbenen buchstabieren, mit dem er auf der Straße bekannt war.
Die Menge löst sich allmählich auf. Die Trauergäste folgen einander zum West Indian Centre. Die Familie steht neben der Tür, schüttelt Hände, nickt, die Augen geschlossen.
Svensson knackt mit den Halswirbeln, gräbt seine Finger in seine verspannte Schulter. Der Tag ist lang bei solchen Beerdigungen. Er ist bis zum Schluss geblieben, es fällt ihm schwerer, sich zu konzentrieren. Sieben Stunden sind zu lang. Er ist müde jetzt. Seine Augen brennen. Die Lider fühlen sich klebrig an. Er bleibt von zwei bis ungefähr um neun beim Leichenschmaus. Vor dem West Indian Centre haben sie Streifenwagen an jedem Ende der Straße postiert, um möglichen Ärger zu unterbinden. Er ist dankbar, als durchgegeben wird, dass sie eine Beobachtungsposition einnehmen sollen. Er lässt sich schwer neben Dermot ins Auto sinken.
»Völlig in Ordnung, wenn wir hier sitzen«, sagt Svensson und reibt sich die Augen.
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