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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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lieber die Internetseite mit meinem Blog schließen, die Kameras verkaufen und nur noch für mich selbst laufen. Ihr gefällt das ganze Drumherum nicht. Ich weiß nicht, was ich ihr antworten soll. Ich bin ja schon froh, dass sie wieder mit mir spricht. Auch wenn es nicht mehr so ist wie früher. Sie lacht weniger.
    In dem Dorf Anguo steht ein Mausoleum. Sein Dach ist elegant geschwungen, und ich hätte es auf den ersten Blick nicht als muslimisch erkannt, wenn nicht der alte Verwalter gewesen wäre. An seiner weißen Kappe ist er deutlich als Hui zu erkennen.
    »Alles neu«, sagt er, und er meint die Gebäude. Sie sind aus den Neunzigern. Achthundert Jahre lang haben sie hier gestanden und die Gebeine eines muslimischen Missionars beherbergt. Und dann kam die Kulturrevolution.
    »Die Han-Chinesen?«, frage ich, und es ist eigentlich mehr eine Vermutung als eine Frage.
    Doch er winkt ab. »Ach was, das waren wir selbst.«
    Die schlimmsten Zerstörungen hätten die Hui aus der Nachbarschaft angerichtet, erzählt er. Sie seien wie wilde Tiere über alles hergefallen, selbst die Ziegel seien vor ihnen nicht sicher gewesen, und bis heute habe man nicht alle Teile wiedergefunden.
    »Unser Mausoleum ist über die ganze Gemeinde verstreut!«
    Er lacht trocken, und obwohl es ein freudloses Geräusch ist, bin ich ihm doch dafür dankbar, denn es übertönt für einen Moment das beklemmende Schweigen der Geschichte.
    Kurz nach Anguo verlasse ich Gansu und betrete Ningxia, das autonome Gebiet der Hui. In China gibt es fünf solcher Gebiete, und jedes von ihnen ist einer Minderheit zugeordnet, die sich offiziell selbst verwaltet: Tibet für die Tibeter, Xinjiang für die Uighuren, Guangxi für die Zhuang, die Innere Mongolei für die Mongolen und Ningxia für die Hui. Das hört sich einfacher an, als es ist, denn in Wirklichkeit gibt es unterhalb der Provinzebene noch mehr als tausend autonome Bezirke, Kreise und Gemeinden, und die Selbstverwaltung ist in den allermeisten Fällen auf kulturelle Belange beschränkt. Der Übergang ist unspektakulär: Ich laufe unter einem Schild hindurch, auf dem die lakonische Nachricht »Ningxia betreten« steht. Dann schlafe ich auf einer Wiese ein, die zum autonomen Gebiet der Hui gehört.
    Als sich die Dunkelheit über das Land legt, bin ich noch immer auf der Bergstraße unterwegs. Ich ärgere mich ein bisschen über mich selbst, denn ich habe am Mittag zu lange geschlafen. In einer einsamen Gaststätte bestelle ich einen Teller Nudeln und frage, ob es vielleicht ein Zimmer für mich gebe. Die Bedienung schüttelt den Kopf. Ich solle in der Kiesgrube fragen.
    Zwanzigtausend Tonnen. Von draußen dringt zwar das Donnern der Maschinen herein, doch ich kann mir diese Zahl trotzdem nicht vorstellen. »Sicher, zwanzigtausend?«, frage ich, und Herr Zhou nickt stolz. Zwanzigtausend Tonnen pro Tag.
    Herr Zhou ist der Chef der Kiesgrube. Wir sitzen in seinem Büro und unterhalten uns. Auch sein Bruder ist dabei. Die beiden sind ein bisschen jünger als die Yang-Brüder in Yangquan, doch sie sind ihnen auf eine gewisse Art sehr ähnlich. Sie sind Chefs. Sie tragen Jacketts. Und sie sind die Sorte von Menschen, die vor lauter Tatkraft wirken, als ob sie niemals schlafen würden.
    Ich lasse mich in die Couch zurücksinken. Sie wird heute Nacht mein Bett sein, das hat Herr Zhou großzügig so verfügt. Ich bin satt, meine Füße sind frisch gewaschen und stecken in Badelatschen, und der Becher Tee in meiner Hand duftet nach Südchina. Es könnte nicht besser sein.
    Ich rede ohne Unterbrechung, über Europa und Asien, über Umweltschutz und die Notwendigkeit richtiger Erziehung.
    Die beiden Zhous sitzen mir gegenüber und nicken, ob zustimmend oder aus Höflichkeit, weiß ich nicht.
    »Danke, dass du dir so viele Gedanken über China machst«, sagt der kleine Zhou.
    Wir bleiben noch eine Weile sitzen und trinken Tee, dann verabschieden sie sich.
    Ich breite den Schlafsack auf der Couch aus, lege meinen Kopf auf die Lehne und schließe die Augen. Das Brummen der Maschinen wird lauter, und ich glaube, ich kann es nicht nur hören, sondern auch fühlen: Es kommt durch den Berg in den Fliesenboden, wandert über die Beine in die Couch hinein und bis in mein Ohr. Es ist das lang gezogene Seufzen von zwanzigtausendTonnen Kies, die hier jeden Tag ausgebaggert und irgendwo anders wieder verbaut werden. Ich schließe die Augen, und während sich in meinem Kopf der Lärm dieser Nacht mit dem Lärm der letzten Nacht

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