The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Kopftücher auf und tragen Brennholz in den Armen. Die Wiese ist weiß, es muss geschneit haben.
»Ein Ausländer …«, höre ich sie raunen.
»Guten Morgen«, sage ich.
»Was machst du hier? Du kannst doch nicht einfach hier draußen schlafen!« Es hört sich an, als hätte ich eine Ordnungswidrigkeit begangen.
»Du siehst doch, dass ich das kann!«
»Aber was ist mit den Baozi ?«
»Baozi?«
Ich kenne nur ein Wort, dass sich wie Baozi anhört, und es bezeichnet eine gedämpfte Teigtasche mit Fleischfüllung, eine Delikatesse aus der Hafenstadt Tianjin.
»Baozi?« , frage ich hoffnungsvoll, doch die Bäuerin wirft mirdas Wort sofort zurück, und sie spricht es nicht im ersten, geraden Ton aus, sondern im vierten. Es hört sich kürzer an.
»Baozi, Baozi, Baozi!« , wiederholt sie, und eine ihrer Kolleginnen fragt: »Weißt du, was ein Tiger ist?«
Ein Tiger?
In Sekundenschnelle habe ich mein Wörterbuch in der Hand. Ich gehe durch die Einträge der Zeichen, die wie bao ausgesprochen werden, und zwischen dem Wort für »platzen« und dem für »in die Arme nehmen« werde ich fündig.
»Das ist nicht euer Ernst«, rufe ich, während ich auf den Eintrag deute. Doch die Bäuerinnen nicken. Baozi , das heißt Leopard oder Panther.
»Aber wo sollen hier denn bitte schön Leoparden sein?«
»Schneeleoparden-ah!«, ruft die Dame.
Ich glaube ihr kein Wort.
Eine andere kommt ihr zu Hilfe. »Hast du die verlassenen Häuser nicht gesehen?«
Habe ich, na und?
Sie sagt nichts. Es ist klar, dass sie darauf wartet, dass bei mir der Groschen fällt.
Und dann fällt er.
»Die Häuser wurden wegen der Baozi aufgegeben?«
Vier rot bekopftuchte Häupter nicken voller Genugtuung. Endlich habe ich es verstanden. Baozi .
Der Nebel ist dicht, und der Nadelwald ist es auch, es fühlt sich an wie ein regnerischer Herbsttag im Harz. Ich folge einem Bach nach oben, greife nach Sträuchern und Wurzeln. Der Anstieg ist viel steiler, als es von unten ausgesehen hat, und während ich mich emporarbeite, rutscht der Boden immer wieder unter mir weg. Schwitzend und schimpfend klettere ich in den Nebel hinein.
Scheißberg.
Scheißbaozi.
Scheißlauferei.
Dann endlich die Straße. Ich schiebe meinen erschöpften Körper auf ihren Asphalt und trinke den letzten Schluck Wasser. Weit und breit ist kein Fahrzeug zu sehen oder zu hören, der Berg liegt friedlich in seinem Nebelbett. Ich bin froh, wieder ebenen Boden unter meinen Füßen zu haben.
Nach wenigen Kilometern erreiche ich das Denkmal für den Langen Marsch. Es ist an ein Museum angeschlossen, das von oben bis unten vollgestopft ist mit goldenen Mao-Figuren. Vier junge Leute schieben hier oben Dienst, drei Männer und eine Frau. Sie sind in dicke, armeegrüne Parkas gehüllt, weil die Gebäude nicht geheizt werden, solange keine Besucher da sind.
In letzter Zeit wurde nicht oft geheizt.
Nur auf die Kader sei noch Verlass, sagen sie, während wir Milch und Kekse teilen. Vor zwei Tagen erst sei ein hoher Funktionär aus Beijing da gewesen. Sie erzählen mir von dem Besuch, und ich stelle ihn mir vor wie eine Art Wallfahrtszeremonie.
Als ich von meinem Anstieg und den Behauptungen der Bäuerinnen erzähle, fallen sie mir aufgeregt ins Wort: Das sei völlig richtig, auf dem Berg wimmele es vor Schneeleoparden, das wisse hier jeder.
»Du siehst sie nicht, aber sie sehen dich!«, sagt einer und lacht. Ich lache mit, aber ich glaube es immer noch nicht so recht.
Als ich wenig später über die Westseite absteige, ist es wie ein Nachmittagsspaziergang. Auf dieser Seite des Berges gibt es keinen Nebel und auch kein Geröll, und die Bäume stehen nicht so dicht. Es ist warm, ich folge den Serpentinen, und nur manchmal kürze ich ein Stück ab, indem ich einen kleinen Abhang hinunterlaufe. Leise summe ich vor mich hin.
Ich erreiche die Kleinstadt Longde, finde ein Hotelzimmer und breite meine Sachen zum Trocknen aus. Dann schalte ich den Computer ein. Die Sache mit den Schneeleoparden lässt mich nicht los. Was, wenn es stimmt? Ich habe mich vor meinem Aufbruch in Beijing über Bären- und Wolfspopulationen informiert, über giftige Tiere und über alle möglichen Krankheitserreger. Aber über Schneeleoparden?
Ich gehe über das Handynetz online, die Verbindung ist quälend langsam. »Leopard reappears at Liupan Mountain«, lese ich, während sich der Rest der Seite aufbaut.
Dann lache ich laut auf.
Ich bin in einem Hotel, in dem Spucknäpfe vor den Türen stehen. Das
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