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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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staubigen Hinterland und dachte über die Welt nach, einfach weil sie ihn interessierte. Und dabei waren seine Gedanken so klug wie seine Urteile sanft.
    Ich finde ihn nicht wieder. Einen ganzen Tag lang verbringe ichmit der Suche, aber irgendwann gebe ich auf. Vielleicht liegt es daran, dass sich die Städte Chinas so schnell ändern, vielleicht aber auch einfach an meinem miserablen Orientierungssinn.
    Immerhin finde ich aber etwas anderes wieder: die Brücke am Bahnhof. Als ich sie wiedererkenne, macht mein Herz einen Sprung.
    Diese Brücke ist zwar bei Weitem nicht so formschön wie die Marco-Polo-Brücke von Lugou und auch nicht so riesig wie die, die mich vor ein paar Monaten bei Fenglingdu über den Gelben Fluss gebracht hat. Doch ich mag sie mindestens genauso gern.
    Ich eile ihr entgegen, strecke den Oberkörper über die Brüstung.
    Aber die Nachricht ist verschwunden.
    Als ich vor zwei Jahren hier war, war es Hochsommer, und das Flussbett war fast gänzlich ausgetrocknet. Ich stand auf der Brücke und blickte nach unten, und plötzlich erkannte ich eine Nachricht. »Warum können Liebende nicht zusammen sein?«, stand da, und daneben, auf Englisch: »love you«. Jemand hatte die Worte aus großen Steinen zusammengelegt.
    Zwei Jahre sind seitdem vergangen, und natürlich ist die Nachricht nicht mehr da. Ich will mich gerade abwenden, da erkenne ich eine neue. Sie ist schwer zu entziffern, die Steine liegen weiter auseinander: »Ich liebe …«, steht da in kruden Schriftzeichen, und daneben: »… fünf Jahre …« Der Rest ist nicht mehr zu erkennen. Pingliang, das sind für mich der gute Bauer Yuan und die traurige Liebesbotschaft im Fluss.
    In meinem Posteingang ist eine E-Mail von einem deutschen Kindermagazin. Sie hätten aus einer Zeitung von mir erfahren. Ob ich mir vorstellen könne, für sie kleine Geschichten über Kinder zu schreiben und sie zu fotografieren?
    Ich denke an meine kleinen Freunde vom Fischteich, an den Blütenkranz, den sie mir gebastelt haben. An Opa Lius Enkelinim Kohlegebiet von Shanxi und ihre Begeisterung für die saubere Luft in Beijing. Und an all die kleinen Gesichter, die mir vom Straßenrand aus beim Laufen zugeschaut haben, manche amüsiert, andere argwöhnisch, die meisten bis zum Platzen neugierig.
    Natürlich sage ich zu.
    Als ich am nächsten Tag durch die Stadt irre, um ein geeignetes Kind zu finden, treffe ich überraschend auf Herrn Li.
    »Du hier?«, ruft er erfreut, als ich einen Kiosk betrete. Wir haben uns vor ein paar Tagen auf der Landstraße kennengelernt. Er war auf dem Weg zur Arbeit in einem Kraftwerk.
    Herr Li freut sich, mich wiederzusehen, und er will sich partout nicht davon abbringen lassen, für meine Einkäufe zu bezahlen. Der Ladenbesitzer sei ein Verwandter von ihm, erklärt er, und dann fügt er gönnerhaft hinzu: »Egal, was du brauchst in Pingliang, sag mir einfach Bescheid!«
    Mir fällt auch sofort etwas ein.
    Keke lacht. Es ist das gutmütige Lachen der Vierjährigen, ihre Augen leuchten.
    »Deutscher Onkel!«, ruft sie immer wieder, und es wird tatsächlich mit jeder Wiederholung ein bisschen lustiger. Sie hat kurze Haare, die leicht in eine Vokuhila-Frisur übergehen, sie ist mein Fotomodell und Interviewpartner, ihre Mutter ist eine Arbeitskollegin von Herrn Li. Er steht daneben und lächelt zufrieden.
    Nur: Was fragt man ein vierjähriges Kind?
    Ich versuche, mich an meine eigene Kindheit zurückzuerinnern. Schwimmflügel tauchen auf, zerschrammte Knie, Tränen. Von meinem leiblichen Vater gibt es nur eine Erinnerung an einen bärtigen Mann, der einen Luftballon in den Händen hält.
    Dann fällt mir etwas ein.
    »Spielst du gern mit diesen kleinen bunten Plastikteilen, aus denen man etwas bauen kann?«, frage ich. Das chinesische Wort für Lego will mir partout nicht einfallen. Keke guckt ihre Mutter an, dann schüttelt sie den Kopf und lacht. Der deutsche Onkel hat wieder etwas Ulkiges gesagt.
    Wir verbringen zwei Tage zusammen. Ich besichtige ihren Kindergarten und ihre Kalligrafieklasse, höre ihr beim Klavierüben zu und lerne ihre Großeltern kennen, und einmal nimmt uns Herr Li in seinem Auto mit in das Kongtong-Gebirge, das gespickt ist mit daoistischen und buddhistischen Tempeln.
    Ich mache Fotos von Kekes Leben und notiere meine Erkenntnisse:
    Lieblingsessen – Jiaozi . Lieblingsspielzeug – Nini, das grüne Maskottchen der Olympischen Spiele. Lieblingsbeschäftigung – Fahrradfahren (mit Stützrädern, aber sehr schnell).

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