The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
der Republik. Das Wort »Kriegsherren« fällt, und mir schwirrt sofort der Kopf: Dieser Zeitraum, das Durcheinander nach dem Ende der Kaiserzeit, war einer der Albträume meines Sinologiestudiums.
»Die Berge sind hoch und der Kaiser ist fern«, sagt der chinesische Volksmund, und er meint es ohne Wertung, es kann gut sein für die Leute oder eben schlecht. In der Zeit nach 1911 war es für die meisten Menschen nicht so gut, denn der Kaiser war nicht mehr nur fern, sondern er war weg, und mit ihm war auch die Ordnung verschwunden.
Es waren innere und äußere Kräfte gewesen, die jahrzehntelang an der Macht der Qing-Dynastie gerüttelt hatten, bis sie im Winter 1911 schließlich zusammenbrach. China wurde Republik, und die Republik brauchte einen Präsidenten.
Er hieß Sun Wen, aber er war bekannter unter seinen anderen Namen: Sun Zhongshan oder Sun Yat-sen. Er trug einen schönen Schnauzbart und hatte eine Geburtsurkunde aus Hawaii, von der niemand genau sagen konnte, ob sie echt war oder nicht. Er blieb nicht lange Präsident, denn es fehlte ihm das Wichtigste: militärische Macht.
Sein Nachfolger hieß Yuan Shikai. Auch er trug einen Schnauzbart, aber er war dicker und vor allem ehrgeiziger als sein Vorgänger. Außerdem war er General. Er verteilte Zuständigkeiten an die Militärs in den Provinzen, um seine eigene Position zu stärken, und im Jahr 1915 rief er sich selbst zum Kaiser aus.
Es kam eigentlich nicht überraschend. Hatte es nicht jedes Mal nach dem Untergang einer Dynastie eine gewisse Zeit der Unordnung gegeben, bevor das Land sich unter einem neuen Herrscherhaus wieder zusammengefunden hatte?
Yuan Shikai hatte das getan, was andere Dynastiegründer vor ihm auch getan hatten, doch er scheiterte schon nach wenigen Monaten. Die Militärs in den Provinzen sagten sich vonihm los, die einen intrigierten, die anderen putschten, und das Land ging in dem Chaos unter, aus dem später der Bürgerkrieg der Kommunisten gegen die Nationalisten hervorgehen sollte.
Aus dieser Zeit sind die Festungsruinen in den Bergen übrig geblieben. Sie waren Verteidigungsanlagen der Dorfbewohner, von ihnen selbst angelegt, um sich vor Räuberbanden und marodierenden Söldnern zu schützen, weil niemand sonst es für sie tat. Wenn eine Bedrohung näher kam, nahmen sie ihr Hab und Gut und zogen in die Berge hinauf, in ihre Lehmfestungen. Dort warteten sie ab, bis wieder Ruhe einkehrte.
Ich sitze in dem kleinen Gasthaus und schlürfe meine Nudeln, und dabei denke ich an die leere Fläche in dem Kasten, den ich besichtigt habe. Ein paar Hundert Leute, die sich darin ängstlich aneinanderpressen, während draußen ihre kaiserlose Heimat im Chaos versinkt.
DER RICHTIGE ORT
Ein Dutzend Kinder. Sie sind von der Dorfstraße in mein Zimmer hereingeströmt und springen um mich herum. Ich soll ihnen Bilder zeigen.
Wir setzen uns auf meinen Kang und schauen auf dem Laptop Fotos an, immer noch eines und noch eines und noch eines. Wenn ihnen ein Bild besonders gefällt, muss ich aufpassen, denn dann kreischen sie vergnügt, und ihre Finger stürzen wie Raketen auf den Bildschirm meines Notebooks nieder.
Ich zeige ihnen das Video. Ich habe es erst vor ein paar Tagen zusammengeschnitten, es besteht aus ein paar Hundert Selbstporträts, vom ersten Tag in Beijing bis nach Pingliang, es zeigt das Wachstum meiner Haare und meines Bartes. Sie lieben es,ich muss den Laptop hochheben, um ihn vor ihren Händen zu retten.
Irgendwann wird es der Bauersfrau zu bunt, und sie verscheucht die ganze Bande.
Am Morgen sage ich den beiden Eseln und dem Schwein Lebewohl. Sie wohnen neben meinem Zimmer in ihren Ställen. Das Schwein ist klein und schwarz, und es kommt an die Stalltür geschlichen, als ich es rufe. Ich drücke mit dem Finger auf seinen Rüssel und mache dabei Hupgeräusche. Es schmatzt freundlich. Es weiß nichts davon, dass es zum nächsten Frühlingsfest in den Topf kommen wird.
Die Bergstraße führt mich an einer Dorfschule vorbei. Hunderte von Schülern, die im Sportplatzstaub auf und ab laufen. Ich stehe einen Moment zu lange herum und werde sofort umzingelt. Sie lachen und johlen, und es werden immer mehr, bis zwischen den braunen Bergen ein Gedränge herrscht, wie ich es das letzte Mal in den Stoßzeiten der Beijinger U-Bahn erlebt habe.
Ich bin froh, als ich wieder mit der Straße allein bin. Wie konnte die Schule nur so riesig sein, obwohl hier draußen nur so wenig Leute wohnen? Ein Schild taucht auf: LANZHOU 200 KM. Es
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