The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
vor einem kleinen Naturstein mit einem Bäumchen dahinter stehen. Ein ewiges Licht brennt, meine Großtante muss es angezündet haben.
Ich bin einen Moment lang still.
Dann zeige ich auf das Bäumchen und sage: »Es ist wieder größer geworden.«
Meine Großtante blickt mich an, ich versuche zu lächeln. Es gelingt mir nicht. Ich sinke in die Knie.
Als wir am Haus ankommen, öffnet uns mein Großonkel die Tür. Er freut sich, mich zu sehen. »Was machst du nur für Sachen, Chrischie?«, fragt er. Er drückt mich an sich und gibt mir einen Kuss auf beide Wangen.
An diesem Abend bleiben wir lange wach. Wir sitzen in derKüche. Es gibt Brot mit einer besonders harten Kruste, dazu Käse, Paprika und Salami. Um uns herum schwebt eine Wolke aus süßlichem Zigarrenqualm.
Ich erzähle von meiner Reise, von meinem Aufbruch vor einem Jahr, von den Großstädten, den Kohlegebieten und der Nacht im Schnee, von den Tempeln, den Wüsten, den Kamelen und den Yaks, von den Sandstürmen und von Lehrer Xie.
Mein Großonkel liebt ihn, besonders gefällt ihm die Geschichte von dem Yakschädel.
»Dein Lehrer hat völlig recht«, sagt er. »Wenn man einen findet, dann will man noch einen zweiten haben!«
Er zieht an seiner Zigarre.
Dann erzählt er mir von seiner Flucht aus Siebenbürgen vor mehr als dreißig Jahren. Wie er nach Deutschland entkam, um zu studieren und den Rest der Familie freizukaufen. Es ist eine Geschichte, in der es viel ums Laufen geht.
Ich höre sie zum ersten Mal.
Am nächsten Tag ruft mein Vater an. Er sagt: »Morgen hast du ja Geburtstag, möchtest du nicht nach Hause kommen?«
Ich sage, ich kann nicht.
Dann werde ich siebenundzwanzig.
Die Tür geht auf, und meine Familie ist da: Becci, Rubi, mein Vater, seine Freundin und sogar Puk, der Hund, sind aus Bad Nenndorf angereist. Meine Cousinen kommen dazu.
Es gibt Kuchen und ein paar hastig besorgte Geschenke. Wir sitzen am großen Esszimmertisch, alle reden durcheinander, Puk liegt an meinem Bein, und es fühlt sich an wie Weihnachten.
Sie bleiben nur bis zum Abend. Als wir uns voneinander verabschieden, sagt mein Vater: »Ein Platz im Auto ist noch frei.«
Ich schüttele den Kopf.
Er nimmt mich in den Arm, dann sind sie weg.
»Was hast du jetzt vor?«, fragt mein Großonkel, als wir wieder allein sind.
»Ich weiß es nicht«, sage ich.
Er lächelt. »Dann hilf mir morgen erst mal mit dem Sand.«
Es nieselt. Ich habe eine Latzhose an, Gummistiefel und Arbeitshandschuhe. In den Händen habe ich eine Schaufel und zwei große Plastikeimer. Mein Großonkel hat das Gleiche an wie ich. Wir stehen vor einem großen Haufen Sand im sanften Regen.
»Das«, sagt er und zeigt auf den Sand, »muss da hinüber.« Er zeigt woandershin.
Wir schippen den Sand in die Eimer. Wenn sie voll sind, tragen wir sie an langen Armen zu der anderen Stelle und kippen sie aus. Es macht ein schönes, weiches Geräusch, wenn der Sand aus den Eimern rutscht. Der Rest ist Plackerei.
Als wir Pause machen, damit er an seiner Zigarre paffen und ich etwas trinken kann, sieht der Haufen immer noch genauso groß aus wie zu Anfang. Meine Arme schmerzen.
Wir machen weiter, der Regen wird stärker, ich fahre mit der Schaufel in den Sand, fülle die Eimer voll, trage sie hinüber, höre das weiche Geräusch des Ausschüttens, denke an Juli, an den Weg, an die Regeln des Laufens und an das, was Lehrer Xie gesagt hat.
Langsam wird der Haufen kleiner.
Wir machen noch eine Pause.
Wir schippen, laufen, schütten aus.
Dann klopft mir mein Großonkel auf die Schulter. Der Haufen ist weg, nur noch eine Verfärbung am Boden zeugt davon, dass hier einmal etwas war.
Der Rest der Zeit ist ruhig. Sie vergeht in einem Rhythmus aus essen, unterhalten und schlafen. Ich besuche Mama jeden Tag.
Ich bin gern bei ihr.
Sie ist da, egal, was passiert. Ich erzähle ihr von meiner Reise, von Juli und von meiner Hoffnung, obwohl sie von alldem schon weiß. Ich frage sie, wie es meinem leiblichen Vater geht, sein Grab ist zu weit entfernt, um ihn zu besuchen. Ich sage ihr, was Lehrer Xie mir mitgegeben hat, als ich im Flugzeug saß und wir das letzte Mal miteinander telefonierten: Ich hätte etwas verloren, hat er gesagt, und etwas gefunden.
Einmal komme ich zu ihr und sage, dass ich endlich weiß, was ich tun will.
Am nächsten Tag sitze ich im Zug nach Bad Nenndorf. Ich habe erst den Regionalzug, dann die Bahn über die Dörfer genommen, denn ich möchte nicht, dass die Landschaft zu schnell am
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