The Lost
Wimperntusche als sonst aufgetragen, trotzdem findet er es immer noch ziemlich geschmackvoll; als Erstes schaut man in die Augen, und dann würde man sofort das dunkle Schimmern darin bemerken. Dazu einen Hauch Rouge auf den gepuderten Wangen. Der Leberfleck ist sorgfältig akzentuiert, mit einem Augenbrauenstift, dessen Spitze er mit seiner Spucke angefeuchtet hatte – sein Stigma, sein Kainsmal.
Er entfernt die silbernen Halterungen des Spiegels, nimmt ihn von der Wand und stellt ihn, an die Toilette gelehnt, auf den Boden. In der Wand dahinter kommt ein großes tiefes Loch zum Vorschein, und in dem Loch liegt ein mattsilberner .38er Smith & Wesson-Damenrevolver mit Rosenholzgriff. Zusammen mit zwei Patronenschachteln, eine für den Revolver, die andere für die schlanke Remington Kaliber .22 mit Walnussgriff, die sich hinter den Schachteln befindet.
Jeden Tag, wenn Ray in den Spiegel geblickt hat, hat er auch auf diese beiden Waffen geschaut.
Niemand, nicht mal Tim, weiß, dass sie dort liegen. Tim glaubt, er hätte sie vor langer Zeit weggeworfen. Einmal im Jahr, am Jahrestag der Nacht am Turners Pool, hat Ray sie geölt und poliert und anschließend die eigens dafür gekauften Utensilien entsorgt. Die Spuren beseitigt.
Er nimmt den Revolver und die Patronenschachteln heraus und legt alles auf den Klodeckel. Er greift tief in das Loch, zieht das schlanke Gewehr heraus und stellt es aufrecht gegen das Waschbecken. Den Spiegel hängt er wieder an die Wand und befestigt die Halterungen. Dann öffnet er die Schachtel mit den .38er Patronen, stellt sie auf das Waschbecken und lädt den Revolver; währenddessen betrachtet er sich im Spiegel.
Leer wiegt die Smith & Wesson mit dem kaum fünf Zentimeter langen Lauf nur knapp zweihundert Gramm. Trotzdem liegt sie angenehm in der Hand. Das liegt an ihrem genau austarierten Gewicht. Er schiebt fünf Patronen in die Trommel und lässt sie wieder zuschnappen.
Die verschlossene Patronenschachtel legt er zusammen mit dem Revolver wieder auf den Klodeckel. Dann öffnet er die andere Schachtel, nimmt das Gewehr und zieht das Magazin heraus, bestückt es mit vier Patronen und schiebt es wieder in die Waffe. Dafür muss er den Blick von seinem Spiegelbild auf das Gewehr richten. Als er fertig ist, hängt er sich die Remington mit ihrem weichen Lederriemen über die Schulter, schließt die zweite Patronenschachtel und steckt den Revolver ein. Erneut richtet er den Blick auf den Schwarzen Ritter im Spiegel, auf Ray, den Todesengel. Dann nimmt er die Patronenschachteln und wendet sich mit seinem Elvis-Grinsen – dem bösen Elvis-Grinsen – ab, verlässt das Bad, marschiert durch sein Apartment, vorbei an Wasserbett, Fernseher und Plattenspieler, und tritt hinaus auf den sonnendurchfluteten Motel-Parkplatz, um seine abtrünnigen Fans zu besuchen.
39
Die Verlorenen
Ray stieg aus seinem Wagen, und während er den Hügel hinauflief, entsicherte er das Gewehr, den Blick auf das flackernde Licht des Fernsehers im Wohnzimmer gerichtet. Er betrat das geräumige Haus, in dem seine Eltern ihn großgezogen hatten, und sah seine Mutter auf dem Sofa sitzen. Sie schaute sich die Ed Sullivan Show an. Ed verabschiedete sich gerade von Dinah Shore, die offenbar eines ihrer Liedchen geträllert hatte, und das Publikum applaudierte. Stirnrunzelnd blickte seine Mutter zu ihm in den Flur. Er stand immer noch in der Haustür. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, während Dinah unter Applaus das Studio verließ und Ed mit einer Geste Richtung Kamera eine Werbepause ankündigte, und dann schoss Ray seiner Mutter mitten ins Herz und lud durch. Die leere Patronenhülse landete geräuschlos auf dem Türvorleger. Erneut legte er an, zielte und gab einen weiteren Schuss ab.
Während er zu seinem Wagen hinunterlief, lud er abermals durch. Klappernd landete die Patronenhülse auf dem steingefliesten Weg. Das Geräusch war befriedigend. Er sicherte das Gewehr wieder. Dann öffnete er die Tür des Chevy, stieg ein und warf die Remington auf den Beifahrersitz neben den Revolver und die Patronenschachteln.
Sein Vater saß an der Rezeption und starrte auf den vermutlich stummgeschalteten Fernseher. Ray fragte sich, ob er sich ebenfalls die Ed Sullivan Show ansah, nur ohne Ton. Sein Vater hob den Kopf, lächelte und winkte ihm zu, während Ray an ihm vorbeirollte und zurückwinkte. Er bog auf die Straße und überlegte, wo es als Erstes hinfahren sollte. Doch dann merkte er, dass er Hunger hatte,
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