The New Dead: Die Zombie-Anthologie
Gesellschaft zu leisten und sich nach seinem Befinden zu erkundigen, doch am Ende kümmerten sich nur noch sein Freund Joseph, ein amerikanischer Buddhist, und die Schwester vom Hospiz um ihn, die einmal am Tag nach ihm sah. Und ich natürlich. Geshe und ich sprachen nicht viel miteinander – es kostete ihn unsägliche Kraft, die Schmerzen zu ertragen –, aber wie ich schon sagte: Er beeindruckte mich. Während der langen Tage in seiner Wohnung verbrachte ich viel Zeit damit, mir seine Bücher und anderen Sachen anzusehen. Auf die Art und Weise lernt man jemanden so gut kennen, als würde man sich mit ihm unterhalten. Ich sah auch viele seiner Kunstwerke, was vielleicht eine noch bessere Möglichkeit ist, einen anderen Menschen kennenzulernen. Er malte wunderschöne buddhistische Thangkas – Bilder, die bei der Meditation Verwendung finden.
Als Geshe anfing dahinzuscheiden, las Joseph ihm das Bardo Thödröl vor. Ich selber habe mich nie intensiv damit beschäftigt. Dieser hippiehafte Ruf des Tibetischen Totenbuches hat es mirverleidet, als ich jünger war, und heute muss ich die praktischen Grundlagen irgendwelcher religiösen Dogmen nicht mehr kennen, um mit den universellen Wahrheiten zu arbeiten, die ihnen allen zugrunde liegen. Doch ich muss sagen, dass es mir die Augen öffnete, als ich die Texte hörte und Geshe mit ihnen starb.“
„Allen bedeutenden Glaubensrichtungen wohnt im Kern eine große Wahrheit inne“, erklärte Arvedson feierlich.
„Ja, doch was mir wirkliche Bewunderung abrang, war die Ruhe und Gelassenheit der Menschen, die die Bardos geschrieben haben – ihre Sachlichkeit ist wohl das beste Wort dafür. Das Bardo Thödröl ist ein ausgesprochen sachliches Buch. Eine Straßenkarte. Eine Sammlung von Reisetipps. ‚Hier nun das, was geschehen wird, nun, da du tot bist. Tu dies. Das tue nicht. Und alles wird gut sein.‘ Nur dass es diesmal nicht stimmte.
Der berühmte Lehrer Chögyam Trungpa Rinpoche sagte, das Beste, was wir für die Sterbenden und frisch Verstorbenen tun können, ist, ihnen eine Atmosphäre der Ruhe zu verschaffen, und das schien eindeutig das zu sein, was Geshe an seinem Ende auch hatte. Es regnete fast die ganze Woche, doch es war ein stetiger, ruhiger Regen. Joseph las die Bardos immer wieder, während er und ich uns dabei abwechselten, Geshes Hand zu halten. Aufgrund meines besonderen Einfühlungsvermögens begann ich etwas von dem zu spüren, was er spürte – das Herannahen des Großen Geheimnisses, den Übergang oder wie immer man das nennen möchte –, und natürlich ging mir das sehr an die Nieren. Geshe jedoch hatte überhaupt keine Angst. Das jahrelange Training und die Meditation hatten ihn vorbereitet.
Es ist faszinierend zu beobachten, wie die sterbende Seele die Erfahrung beeinflusst, Onkel Edward. Wie gesagt habe ich mich nie besonders intensiv mit dem tibetischem Buddhismus beschäftigt, doch das Sterben, das ich durch Geshe miterlebte, war so stark von dieser Tradition beeinflusst, dass ich es auf keine andere Weise spüren konnte. Es war so real wie die Tatsache, dass wir jetzt hier im Dunkeln sitzen und dem Wind und dem Regenlauschen.“ Nightingale hielt einen Moment lang inne, während der Sturm an den Fenstern des alten Hauses rüttelte. „Tausende von Göttern, die ein Gott sind, der das Licht des Universums bildet … Ich kann es nicht erklären. An Geshes Gedanken teilzuhaben, während er seine Reise antrat – obwohl ich nur einen Anflug von dem spürte, was er empfand –, das war, als würde man in einer Achterbahn sitzen, die durch ein Kaleidoskop rast, aber zugleich auch, als würde man durch eine endlose, dunkle, schweigende Leere fallen.“
„Zur Zeit, da Körper und Geist sich trennen, geht dir die wahre Erscheinung des Seins-an-sich als subtil und klar, hell strahlend, von Natur aus leuchtend und doch furchterregend auf, gleich dem Glitzern einer flimmernden Fata Morgana über einer hochsommerlichen Ebene“ 8 , zitierte Arvedson. „Zumindest sagt Bardo das.“
„Ja.“ Nightingale nickte. „Ich erinnere mich, es da gehört und auch deutlich verstanden zu haben, obwohl die Worte, denen ich lauschte, tibetisch waren. Joseph hatte mit dem Lesen des Chikkhai-Bardo begonnen, dem Bardo des Sterbens. In der realen Welt, wie wir sie manchmal sehen, war Geshe so tief in sich versunken, dass er nicht mehr sichtbar atmete. Doch ich war in dem kleinen Raum in Seattle eigentlich nicht neben ihm, obwohl ich Josephs Stimme immer noch
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